Foto von Eva Joachimsen |
Das erste
Weihnachtsfest in ihrer neuen Heimat! Mit Peer hatte Emily abgesprochen, dass
sie ein deutsch-britisches Weihnachtsfest feiern wollten. Auf diese Weise
brauchten sie beide nicht auf liebgewordene Traditionen zu verzichten.
Mit dem
Mistelzweig, den Emily in der Adventszeit über der Wohnzimmertür befestigte,
fing es an. Dieser Brauch fand besonderen Anklang bei ihrem frischgebackenen
Ehemann. Oft verharrte er grinsend unter dem Türrahmen, um sie unter dem Mistelzweig
küssen zu können.
Die
Weihnachtskarten, die Emily in Ermanglung eines Kamins auf dem Sideboard
aufstellte, amüsierten ihn. „Ich wusste gar nicht, dass du dermaßen viele Leute
kennst“, lachte er.
Den Heiligen
Abend verbrachten sie auf deutsche Weise mit Kerzenlicht und Geschenken unter
dem Weihnachtsbaum. Trotzdem hängte Emily vor dem Zubettgehen einen Strumpf auf
und fand zu ihrer Freude am nächsten Morgen darin einen hübschen Ring mit einem
kleinen Rubinherz.
Christmas Day
– der erste Weihnachtstag –, das war der Höhepunkt von Emilys Fest! Peers
gesamte Familie war eingeladen: seine Eltern, der Bruder mit seiner Frau und
die Großmutter.
Emily hatte
sich große Mühe mit der Dekoration gegeben. Das Esszimmer war reichlich mit
Luftschlangen und Papierketten geschmückt. Auf dem Tisch lag an jedem Platz ein
buntes Knallbonbon.
Kurz bevor
ihre Gäste kamen, schaute Emily sich zufrieden um. Ja, so feierte man
Weihnachten in ihrer Heimat, und sie freute sich darauf, ihrer neuen Familie
dieses Fest nahezubringen. „Merry Christmas“, dachte sie.
Die Eltern
erschienen als Erste. Verwundert blickten sie Emily an. „Feiern wir heute
Karneval?“, fragte Peers Vater. Es war als Scherz gemeint, aber Emily spürte
das unangenehme Körnchen Wahrheit, das in dieser Bemerkung lag.
„Bei uns zu
Hause ist Weihnachten ein sehr fröhliches Fest“, erklärte sie.
„Bei uns
auch“, erwiderte ihre Schwiegermutter, „nur – anders fröhlich.“
Peers Bruder
und seine Frau sagten nichts, doch Emily entgingen die Blicke nicht, die sie
sich zuwarfen.
Seine
Großmutter nahm kein Blatt vor den Mund. „Ich finde diese Luftschlangen und
Papiergirlanden unpassend und ganz und gar unweihnachtlich“, äußerte sie mit
tiefer Missbilligung in der Stimme.
Emily
schluckte.
Die
Großmutter nahm ein Knallbonbon und drehte es in ihren Händen. „Was soll das?“,
fragte sie.
„Das ist ein
Christmas Cracker“, erläuterte Emily. Sie merkte es bereits. Ihr Fest würde
misslingen. Aber es half nichts. Da musste sie nun durch. „Zieh!“, forderte sie
Peers Großmutter auf. Gleichzeitig zog sie am anderen Ende des Bonbons. Es
knallte. Alle zuckten zusammen. Ein Blättchen Papier, eine Papierkrone und ein
kleiner Glückskäfer landeten auf der Tischdecke.
Emily las den
Witz vor, der auf dem Zettelchen stand. Zugegeben, es war kein besonders guter.
Die Anwesenden lächelten gequält.
Schnell griff
Emily nach der Papierkrone und setzte sie der alten Dame auf. Sie sah grotesk
damit aus, das konnte Emily nicht leugnen. Andererseits machte natürlich
niemand mit einer Papierkrone auf dem Kopf einen besonders würdevollen
Eindruck. „Ihr müsst alle eure Knallbonbons öffnen“, rief sie, „die Witze
vorlesen und die Kronen aufsetzen.“
Höflich
folgten die Gäste dieser Aufforderung. Sie taten es widerwillig, das war nicht
zu übersehen. Am meisten schmerzte es Emily, dass auch Peer sich offensichtlich
sehr unwohl in seiner Haut fühlte.
Dennoch
versuchte er ihr zu Hilfe zu kommen. „Warum sollten wir Weihnachten nicht mal
ein wenig anders feiern als sonst?“, warf er ein. „Damit Emily ihre Heimat
heute nicht allzu sehr vermisst.“
„Da stimme
ich dir zu“, antwortete sein Bruder. „Zumal es hier ausgesprochen appetitlich
riecht.“
Bratenduft
durchzog das Haus. Als Hauptgericht gab es Truthahn gefüllt mit Backpflaumen
und Äpfeln, Röstkartoffeln und mehrere Gemüse. Den ganzen Weihnachtsmorgen
hatte Emily in der Küche gestanden.
Peer und sie
holten den Braten und die Schüsseln mit Gemüse und Kartoffeln aus der Küche.
„Mein britisches Weihnachtsfest kommt nicht gut bei euch an“, sagte Emily
traurig.
„Warte mal
ab“, tröstete Peer sie. „Bei dem herrlichen Dinner, das du zubereitet hast,
werden sie ihre gute Laune schnell wiedergewinnen.“
Als sie ins
Esszimmer zurückkamen, hatten alle die Pappkronen wieder abgenommen und neben
ihre Teller gelegt. Emily tat, als bemerkte sie es nicht.
Das
ausgezeichnete Essen fand großen Anklang. Und dennoch, obwohl jeder sich
redliche Mühe gab, blieb die Stimmung verkrampft.
Emily war
erleichtert, als sie endlich beim Christmas Pudding angelangt waren. Diesen
traditionellen Weihnachtspudding aus Rosinen, Trockenfrüchten, Mandeln und
Nüssen hatte sie schon einige Wochen vorher zubereitet. Darin war eine Münze
versteckt. Wer die fand, durfte sich etwas wünschen.
Ihre
Schwiegermutter hatte die Münze auf ihrem Teller.
„Und was
wünschst du dir?“, wollte Peer wissen.
„Dass wir
nächstes Jahr wieder normal Weihnachten feiern“, antwortete sie wie aus der
Pistole geschossen. Sie warf Emily einen entschuldigenden Blick zu. „Nichts für
ungut“, fügte sie hinzu. „Es war durchaus interessant zu erleben, wie man in
Großbritannien das Weihnachtsfest begeht. Allerdings ziehe ich ehrlich gesagt
deutsche Weihnachten vor.“
Unter dem
Tisch nahm Peer Emilys Hand und drückte sie.
Emily
lächelte. „Ist schon okay“, erwiderte sie, doch das Herz tat ihr weh.
Eigentlich wurde ihr erst in diesem Augenblick so richtig bewusst, dass sie
ihre Heimat verlassen hatte.
Sie hatte es
für Peer getan und nie bereut, all die Jahre nicht. Vor Kurzem hatten sie
Silberhochzeit gefeiert. Das bedeutete fünfundzwanzig Weihnachtsfeste ohne
Luftschlangen und Knallbonbons, dafür mit Engeln, Glockenklang und feierlicher
Musik. Allein der Truthahn am ersten Weihnachtstag und ein paar
Weihnachtskarten auf dem Sideboard erinnerten noch an das Fest ihrer Kindheit
und Jugend.
Ihre Tochter
war mit dem deutschen Weihnachtsfest aufgewachsen. Die Geschenke brachte das
Christkind. Father Christmas, der in der Nacht auf den ersten Weihnachtstag
durch den Schornstein kommt, hatte für sie nie eine Rolle gespielt.
Emily selbst
hatte sich an deutsche Weihnachten gewöhnt. Nicht nur das! Dieses typisch
deutsche Fest gefiel ihr. Deutschland war mit den Jahren zu ihrer Heimat
geworden – ihrer zweiten Heimat.
Und heute
würden Peer und sie Christmas Day zum ersten Mal nicht zu Hause verbringen.
Anna, ihre Tochter, hatte mit ihrem Freund eine eigene Wohnung bezogen und die
Eltern eingeladen.
Als sie bei
Anna eintraten, stieg ihnen ein vertrauter Duft in die Nase. Truthahn. Diese
Familientradition wollte ihre Tochter beibehalten.
Anna führte
sie ins Wohnzimmer. „Was ist denn das?“, rief Emily überrascht aus. Unter der
Decke hingen Luftschlangen und bunte Papierketten. Auf dem festlich gedeckten
Tisch lag neben jedem Teller ein Knallbonbon. An Peers und ihrem Stuhl war ein
Strumpf befestigt, aus dem Geschenke hervorschauten.
„Ich dachte,
heute feiern wir mal britische Weihnachten“, erklärte Anna. „Du hast mir so oft
davon erzählt. Das wollte ich immer schon ausprobieren.“
„Wie schön!
Ich freue mich“, stieß Emily hervor.
Während des
Essens dachte sie zurück an ihr erstes Weihnachten in Deutschland. Wie anders
war es verlaufen als dieses hier!
„Dies ist das
lustigste Weihnachtsfest, das ich je erlebt habe“, meinte Annas Freund, als sie
nach dem Essen bei einem Gläschen Wein beisammensaßen. Alle hatten ihre
Papierkronen noch auf dem Kopf. „Es ist nicht so kitschig“, fügte er hinzu.
„Ich könnte mich glatt daran gewöhnen.“
„Also
abgemacht“, sagte Anna lächelnd. „Nächstes Jahr, selber Ort, selbe Zeit, selbe
Veranstaltung.“
„Darauf
trinken wir“, rief Peer, und alle erhoben ihr Glas.
© Eva Markert
Eva Markert lebt in Ratingen bei Düsseldorf. Von Beruf ist sie
Studienrätin mit den Fächern Englisch und Französisch. Außerdem besitzt
sie ein Zertifikat für Deutsch als Fremdsprache und ist staatlich
geprüfte Übersetzerin. In ihrer Freizeit arbeitete sie viele Jahre als
Lektorin und Korrektorin in einem kleinen Verlag mit.
Zahlreiche Kurzgeschichten und Kindergeschichten von Eva Markert wurden in verschiedenen Hör- und Printmedien veröffentlicht. Ihre Kinder- und Jugendbücher sowie Romane und Kurzgeschichtensammlungen für Erwachsene sind bei Amazon und anderen Händlern erhältlich.
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