Foto von Eva Joachimsen |
Vor einigen Jahren ereignete sich in einer Kleinstadt im Süden von
Deutschland etwas, wovon die Bewohner noch heute kopfschüttelnd erzählen. Es
war kurz vor Weihnachten. Seit Tagen schneite es und die satten Wolken am
Himmel versprachen weiteren Niederschlag. Die Menschen in dieser Stadt
beobachteten mit Sorge den Schneefall. Die Massen auf den Straßen wuchsen, die
Fahrzeuge fanden kaum ein Durchkommen, so dass sich viele zu Fuß auf den Weg
machten, um ihre letzten Weihnachtseinkäufe zu erledigen.
In dieser Zeit wurde von einer Familie der Stadt ein Kind aufgenommen,
was unter den Bewohnern für Gesprächsstoff sorgte. Es hieß, das die eigenen
Eltern das Kind ausgesetzt hätten. Genaueres wusste jedoch niemand.
Das Kind, es war ein Mädchen, hieß Amelie. Es hatte schneeweiße Haare und
eine ebenso blass schimmernde Haut. Amelie war ein stilles Kind. Es saß
meistens am Fenster, zählte Schneeflocken oder sah den Nachbarskindern beim
Herumtollen zu. Wenn Amelie aufgefordert wurde, mit den anderen draußen zu
spielen, schüttelte sie nur den Kopf, nahm ihre Stoffkatze und kuschelte sich
auf das Sofa.
Das Stofftier hatte Amelie mit in die Familie gebracht. Es hatte ein
weißes Fell und dieselben wasserblauen Augen wie das Mädchen. Vielleicht war
diese Ähnlichkeit der Grund, weshalb Amelie das Tier immer und überall mitnahm.
Die Katze hatte Amelie auch an ihrem ersten Schultag in der neuen Stadt
begleitet. Es kostete der Lehrerin einige Mühe, Amelie zu überzeugen, dass ihr
Spielzeug im Schulranzen besser aufgehoben war.
In diesen Tagen waren die Fenster der Wohnungen mit Zweigen, Strohsternen
und Lichterketten weihnachtlich geschmückt. Frau Sonnenschein, so hieß Amelies
Pflegemutter, hatte eine Tanne besorgt, die kaum größer als Amelie war. Sie
stand bereits auf dem Balkon und wartete darauf, bunt geschmückt zu werden.
Am Morgen des letzten Adventswochenendes nahm Frau Sonnenschein Amelie an
die Hand. Sie liefen in den Ort, eingehüllt in wattierten Mänteln, mit
Wollmützen, Schals und festen Schuhen an den Füßen. Frau Sonnenschein wollte
Weihnachtsgeschenke einkaufen.
»Du hast kein Geschenk auf den Zettel für das Christkind gemalt«, sagte
sie zu ihrer Pflegetochter..
Amelie schüttelte den Kopf. Sie senkte den Blick und presste ihre Katze
an die Wange.
»Hast du keinen Wunsch, Amelie?«
Amelie antwortete nicht.
»Nun, vielleicht willst du dem Nikolaus deinen Wunsch erzählen. Lass uns
ins Kaufhaus gehen, er verteilt dort kleine Geschenke.«
Zielstrebig lief sie mit Amelie in Richtung Spielzeugabteilung. Der
Nikolaus saß auf einem Thron, umringt von Kindern. Jedes Jahr engagierte das
Kaufhaus für diese Rolle einen Studenten. Dieser Nikolaus kam Frau Sonnenschein
wesentlich älter vor. Zahllose Falten durchzogen sein Gesicht. Dennoch
behauptete man später im Kaufhaus, dass es der gleiche Student wie letztes Jahr
gewesen wäre.
Als Amelie die Spielzeugabteilung betrat, hob der Nikolaus den Kopf und
winkte sie zu sich. Einige Kinder zerrten an den Armen ihrer Mütter und
deuteten auf das Mädchen. Die Frauen steckten die Köpfe zusammen und
flüsterten. Ein Junge mit kräftig roten Backen lachte laut und kreischte: »Weißmelli! Weißmelli«
Amelie blieb stehen.
»Sie tun dir nichts«, sagte Frau Sonnenschein und schob sie Richtung
Thron.
Was nun passierte, wurde unterschiedlich von den Umherstehenden berichtet.
Einige behaupteten, Frau Sonnenschein hätte dem Nikolaus etwas zugesteckt,
während dieser Amelie auf seinen Schoß hob. Andere sagten, der Mann hätte die
Stoffkatze in seinen Sack gesteckt und ausgetauscht. Unterstützt von einem
Jungen erzählte Frau Sonnenschein später jedoch Folgendes:
»Mein Kind hatte Angst. Zu offen waren die musternden Blicke und dieses
Misstrauen ihrem Aussehen gegenüber. Dabei war sie nur ein Kind der Stadt wie
alle anderen, mit den gleichen Bedürfnissen und Wünschen. Dann rief jemand
diesen Schimpfnamen. Amelie zitterte am ganzen Körper. Ich überlegte kurz, ob
ich mit ihr die Abteilung verlassen sollte. Der gütige Blick des Nikolauses
hielt mich zurück. Ich verstand, dass ich ihr die Begegnung mit ihrer Umwelt
nicht ersparen durfte. Amelie musste begreifen, dass sie trotz ihrer
Andersartigkeit ein Mensch war, wie jeder andere, mit den gleichen Rechten. Sie
musste lernen, dass das Verhalten der anderen ebenfalls Angst war, Angst vor
dem Ungewöhnlichen. Deshalb drängte ich sie trotz ihres Widerstandes zum Thron.
Sie riss an meiner Hand, als der Nikolaus sie hochhob. Er raunte ihr etwas zu,
und ich konnte sehen, wie sie entspannte. Ich hörte, wie er sagte, dass sie ein
Schneekind sei und deshalb etwas Besonderes. Wenn ein Schneekind in eine Stadt
käme, würde seine Mutter ihre ganze Liebe über den Platz ausschütten. Sie solle
sich umsehen. Dieses Jahr versinke der Ort in Schneemassen, so viel Liebe empfände
ihre Mutter für sie.
In diesem Moment lächelte Amelie -, zum ersten Mal.
Ich weiß nicht, wie er es machte, ich war zu sehr auf seine Worte konzentriert,
aber er streichelte Amelies Stoffkatze und plötzlich bewegte sich das Tier. Es
beugte den Rücken, schnurrte und rieb die Nase an Amelies Arm. Die Kinder
stürmten herbei, um die Katze zu berühren. Es dauerte, bis ich Amelie von den
vielen streichelnden Händen befreien konnte. Die Kinder zupften an den Ärmeln
ihrer Mütter und verlangten auch nach einer Katze.
Amelie legte ihre Hand schützend über das Tier und trug es vorsichtig
nach Hause. Ich überlegte, wie ich meinem Mann den weiteren Familienzuwachs
erklären sollte, aber als Amelie in der Wohnung ihre Arme öffnete, hielt sie
wieder die Stoffkatze in der Hand. Das schien sie nicht weiter zu stören. Wenn
mich die Leute nicht darauf angesprochen hätten, ich hätte an eine Sinnestäuschung
geglaubt.
Nach diesem Geschehen war Amelie verändert. Sie war offener, lachte
wieder, spielte mit den Nachbarskindern, und wenn sie jemand auf ihr ungewöhnliches
Aussehen ansprach, erklärte sie, dass sie ein Schneekind sei, und der Schnee
die Liebe ihrer Mutter.«
Sonja Hoffmann lebt mit
ihrer Familie am Rand von München. Wenn sie nicht dem Broterwerb nachgeht,
taucht sie ein in die Natur und schöpft daraus die Ideen für ihre Geschichten.