Illustration von Krisi Sz.-Pöhls |
„Singen?“ Entsetzen lag in Bens Stimme
„Jawohl, singen. Das haben wir früher immer gemacht“, beharrte ich.
„Lina, das ist total uncool. Leg doch einfach eine CD auf“, sagte
Torben.
„Ihr dürft euch auch ein Lied aussuchen. Glaubt mir, danach ist die
Bescherung umso schöner.“
Die Gesichter meiner Neffen
wurden immer länger. Hilfe suchend schauten sie sich zu ihrer Mutter um.
„Lass die beiden, Lina. Das macht man heute nicht mehr so“, sagte sie.
„Ihr seid richtige Stimmungskiller“, schimpfte ich. Das erste
Weihnachten seit Jahren, das bei mir Zuhause stattfand und die Kinder wollten
künstliche Musik, künstlichen Schmuck und am besten noch einen künstlichen
Baum. Nicht einmal Tante sagten sie.
„Helft Ihr mir wenigstens beim Tannenbaum schmücken?“, fragte ich in
der Hoffnung, wenigstens ein bisschen
Stimmung aufkommen zu lassen.
Die Jungs sahen sich an. „Nö, wir spielen lieber mit Adonis.“
Sofort als er seinen Namen hörte, kam Adonis angesprungen, einen
Gummiknochen im Maul und die drei liefen nach draußen. Ärgerlich stampfte ich
die steile Stiege zum Dachboden hinauf.
Seit der Geburt der Kinder waren
Mutter und ich an jedem Heiligen Abend zu meiner Schwester Theresa
gefahren, weil es so viel einfacher war. Roger zelebrierte mal Gans, mal Pute.
Ben und Torben verschwanden sofort, nachdem sie die Geschenke ausgepackt hatten, in ihren Zimmern. Gegen
dreiundzwanzig Uhr fuhren wir wieder zurück.
Im Sommer war Mutter gestorben. Nicht unerwartet, aber dennoch plötzlich
und mir fehlte die Lust diesen
Weihnachtsbesuchsrhythmus fortzuführen.
Doch das Haus war leer. Zu leer, um an Weihnachten allein zu bleiben.
Kurzerhand lud ich alle zu mir ein und erstaunlicherweise sagten sie zu. Doch so, wie es jetzt lief, hatte ich mir das
nicht vorgestellt.
Ich öffnete die Tür zum Dachboden und wurde sofort von eisiger Luft
eingehüllt. Atemwölkchen bildeten sich vor meinem Gesicht, stiegen auf und
verflüchtigten sich.
Zahlreiche Kartons standen teils
gestapelt, teils unordentlich herum, wie Dosen in einer Wurfbude auf der
Kirmes. Nach einigem Hin und Herschieben fand ich den Karton mit dem
Weihnachtsschmuck und trug ihn nach
unten. Das Paket mit den elektrischen Kerzen lag bereits auf dem Tisch. Mein
einziges Zugeständnis an die Moderne, das dem vor kurzem noch halbverhungerten
griechischen Findelkind geschuldet war, das draußen mit den Kindern spielte.
Hätte ich gewusst, dass er sich innerhalb von zwei Monaten zu einem Hund mit
einer offensichtlichen ADHS-Störung
entwickeln würde, hätte ich mich von seiner mitleiderregenden
Erscheinung nicht erweichen lassen.
Auf dem Boden des Wohnzimmers breitete ich zunächst die Lichterkette
aus und prüfte sie auf Vollständigkeit. Dann öffnete ich den etwas muffig
riechenden Karton und legte vorsichtig den oben aufliegenden Strohstern zur
Seite. Meine Oma hatte ihn vor vielen
Jahren zusammen mit ihren Kindern gebastelt.
Geschnitzte, bunt angemalte Holzpferdchen, Engel und Nussknacker kamen
zum Vorschein, sowie goldene Tannenzapfen. Ganz unten entdeckte ich eine
Spieluhr. Seit Ewigkeiten hatte ich sie nicht mehr in den Händen gehalten. Ich
zog die Mechanik auf und sie auf die Fensterbank. Leise klingend ertönte Stille
Nacht, heilige Nacht. Zu der Melodie drehten sich ein Nikolaus, ein Kind auf einem
Pferd, zwei Rehe und eine Tanne. Im Klang der Musik sah ich Theresa und
mich im warmen Lichterglanz des
Weihnachtsbaumes sitzen. Mutter spielte Klavier, wir sangen Weihnachtslieder
dazu, sagten Gedichte auf und packten danach mit strahlenden Augen Geschenke
aus.
Ein verdächtiges Geräusch holte mich in die Gegenwart zurück.
„Adonis, aus!“, schrie ich. Die
Lichterkette zwischen den Zähnen, drehte Adonis sich nur kurz zu mir um. Ich
bin sicher, er verzog die Lefzen zu einem triumphierenden Grinsen. Mit langen
Sätzen entschwand er meinen Blicken, während die Kette unter seinem Bauch auf
und ab hüpfte. Ich folgte ihm nach draußen. Bestimmt lag er unter einem Busch
und zerlegte gerade die letzten Reste meiner Weihnachtsstimmung.
Torbens ausgestreckter Arm wies stumm in Richtung der Ligusterhecke.
„Adonis, Banane!“, schmeichelte ich, bemüht, ihn meinen Zorn nicht
spüren zu lassen. Es raschelte im Gebüsch. Ein schwarzer Schnauzbart lugte
hervor. „Sieh mal, was ich habe. “
Seine Nase zitterte, als er versuchte, den Duft seines Lieblingsobstes
zu erschnüffeln. Dann kroch er unter der Hecke hervor. Schnell fasste ich ihn
am Halsband. Diesmal trug ich das triumphierende Grinsen auf dem Gesicht.
Die Weihnachtsbeleuchtung wies außer ein paar Zahnabdrücken keine Schäden
auf und ich befestigte sie sofort an den Zweigen der Tanne. Dann hängte ich
Holzfiguren und Tannenzapfen dazu. Die Spitze zierte der Strohstern meiner
Großmutter.
Die Kinder betrachteten den Baum mit kritischen Blicken.
„Da fehlt Lametta“, sagte Ben.
„Und goldene Kugeln“, fügte Torben hinzu.
„Alles künstlich“, erwiderte ich. „Wir schmücken den Baum nur mit
natürlichen Sachen.“
„Ach, und die Kerzen?“ Ben schnaubte.
„Das ist nur, damit Adonis nicht alles in Brand setzt“, verteidigte ich
meine Inkonsequenz. Theresa erschien in der Wohnzimmertür. Feuchte Haarsträhnen
hingen ihr ins Gesicht und um die Hüften trug sie Mutters Schürze. Darin sah sie ihr so ähnlich, dass ich
schlucken musste.
„Sehr hübsch, Lina“, sagte sie mit Blick auf den Baum.
„Mama, wann gibt‘s Essen?“, fragte Ben, begierig auf die nach dem Essen
stattfindende Bescherung. „Das dauert noch. Beschäftigt euch so lange
alleine.“ Theresa wandte sich mir zu.
„Du siehst nicht glücklich aus.“
„Nein, doch. Ich wollte den Heiligen Abend gerne so haben wie früher.
Weißt du noch? Als wir klein waren. Schau mal.“ Ich zog die Spieluhr auf und
sofort füllte die Melodie wieder den Raum.
Theresa lächelte versonnen und summte das Lied mit.
„Ja, das war schön“, murmelte sie.
„Theresa! Wo bleibst du denn?“, rief Roger aus der Küche.
„Ach, herrjeh, den habe ich ja fast vergessen. Hast du Beifuß für die
Gans?“, fragte Theresa.
Ich nickte und folgte ihr in die Küche.
Draußen war es dunkel geworden. Auf dem festlich gedeckten Tisch
brannten Kerzen, deren Licht sich in den Kristallgläsern brach. Dampfende
Schüsseln, gefüllt mit Rotkohl und Klößen, standen bereit und Roger trug die
knusprig braune Gans auf einer silbernen Platte herein.
„Wollt ihr wirklich nicht singen?“, wagte ich einen letzten Versuch.
Die Kinder schüttelten die Köpfe.
„Mach mal, Papa. Ich hab Hunger“, drängte Ben stattdessen und setzte
sich an den Tisch.
Seufzend fügte ich mich ihrem Willen, stellte den CD-Player an und die
Wiener Sängerknaben sangen „Leise rieselt der Schnee.“
Während Roger die Gans tranchierte, schob ich den Stecker der
Weihnachtsbaumbeleuchtung in die Dose. Es gab einen lauten Knall. Eine
Stichflamme schoss aus der Steckdose. Die Lichter gingen aus. Die Musik
erstarb. Und ich landete mit einem Aufschrei auf dem Boden.
Alles war still. Nur die Kerzen flackerten stimmungsvoll.
„Lina, ist alles in Ordnung?“, hörte ich Theresas besorgte Stimme.
„Ja, ja“, stotterte ich ein wenig benommen.
„Was hast du denn jetzt gemacht?“, fragte Ben ungerührt. Allmählich
dämmerte mir, was geschehen war.
„Adonis“, antwortete ich. „Er hat an der Lichterkette gekaut.“
„Und du hattest Angst, er könnte
alles in Brand setzten.“ Ben kicherte und streichelte den zu Unrecht
Beschuldigten, der heftig wedelnd neben ihm saß.
Der Weihnachtsbaum leuchtete nicht an diesem Heiligen Abend. Dafür
spielte die Spieluhr
„Stille Nacht, heilige Nacht“. Theresa und ich sangen dazu.
©Marion Pletzer
©Marion Pletzer
Marion Pletzer, Autorin von Kurzgeschichten und Romanen.
Homepage:
www.marionpletzer.de
Krisi Sz.-Pöhls ist 44 Jahre alt und lebt recht
zurückgezogen in Oppenheim am Rhein.
Malen
gehört seit ihrer Kindheit zu ihren Hobbys. Mittels Fortbildungen ist die
Autodidaktin Künstlerin geworden.
Mehr von ihr auf ihrer Homepage www.salidaswelt.com oder bei www.zazzle.de/mbr/238764950947258943