Foto von Monique Lhoir |
„Da spiele
ich nicht mit.“ Elvira wandte sich ab und starrte die auf der Küchenablage stehende
Teekanne an. Tränen traten ihr in die Augen.
„Mama, du
benimmst dich wie ein störrischer alter Esel. Wir sind nach Neujahr wieder zu Hause
und holen die Bescherung nach.“
„Niemand holt
im Januar eine Bescherung nach. Jedenfalls ich nicht“, fügte Elvira leiser
hinzu. ‚Alter störrischer Esel‘, dachte sie traurig. War sie mit sechzig alt?
„Wir haben gebucht
und fahren in die Berge“, erklärte Antje fest. „Designhotel mit Schneegarantie.“
Elvira unterdrückte
die Tränen und drehte sich langsam um. Heulen konnte sie später, wenn Antje weg
war. „Ich bleibe auf keinen Fall allein zu Haus“, sagte sie ruhig.
„Wo willst du
hin?“ Irritiert schaute Antje ihre Mutter an.
Einen Augenblick
überlegte Elvira. „Ich fahre nach Föhr“, kam ihr ein Blitzgedanke. „Ich feiere Weihnachten
auf der Insel.“
„Was willst
du im Winter auf Föhr? Da ist gar nichts los.“ Antje bekam ihre Sicherheit zurück.
„Den Heiligabend mit Seehunden auf einer Sandbank verbringen?“, fragte sie
spöttisch.
„Auch gut.“
Elvira schaute ihre Tochter nachdenklich an. „Zumindest haben Seehunde mehr
Gefühl als du.“ Elvira wurde übermütig. „Ich werde ihnen ein paar Fische
mitbringen und Bescherung machen.“ Elvira tänzelte kindlich hin und her.
„Du bist
völlig übergeschnappt. Mit dir ist nicht zu reden.“ Antje drehte sich um. „Ich muss
weg. Ich habe Termine.“ Mit einem Achselzucken verließ sie die Wohnung.
Nachdenklich ging
Elvira ins Wohnzimmer. Jetzt liefen die Tränen. es wäre das erste Jahr, dass
sie allein Weihnachten feiern würde. Ihr Mann hatte sie vor einem Jahr wegen
einer Jüngeren verlassen, Antje und ihr Mann Alexander hatten am Stadtrand
gebaut, sodass sie Jonas, ihren vierjährigen Enkelsohn, seltener sah.
Elvira holte
tief Luft, suchte in ihrer Handtasche nach dem iPhone. Das hatte ihr Antje, die
aufstrebende Anwältin, verpasst. Sie war der Meinung, dass Frau von Heute das braucht. Mit dem Zeigefinger tatschte Elvira auf
das Display, rief ihre Kontakte auf
und wählte eine Nummer. Der Ruf ging durch.
„Hallo Imke,
hier ist Elvira“, sagte sie. „Hast du über Weihnachten noch was frei?“
„Wir sind
komplett ausgebucht“, bekam sie bedauernd zur Antwort. „Die große Wohnung wurde
gerade angefragt.“
„Die nehme
ich.“
„Willst du die
Feiertage mit Familie auf der Insel verbringen?“
„Ich komme
allein.“ Kurz erklärte Elvira das soeben Erlebte.
„Die Wohnung ist
für sechs Personen. Du wirst dich darin verlaufen.“
„Besser verlaufen
als in die Ecke gestellt zu werden.“
Anschließend
rief Elvira die Fährverbindungen auf, reservierte online die Überfahrt. Wozu so ein iPhone doch gut ist, stellte sie
aufgeräumt fest und ging ins Badezimmer. Die Schminke war verlaufen, dunkle Schlieren
zeichneten sich auf ihren Wangen ab. Sie wischte sie fort und betrachtete ihr
Gesicht. ‚Alt‘, dachte sie empört. es war kaum eine Falte zu sehen. Die Haare
hatten immer noch eine frische Farbe. Ihre Großmutter war damals alt. Die hatte
einen grauen Dutt und sah abgehärmt aus. Heute mussten die Menschen bis siebenundsechzig
arbeiten, um in Rente gehen zu können. Sie musste dringend über die Feiertage
Urlaub bei ihrer Firma einreichen. Bis zu ihrer Abreise waren es knapp vierzehn
Tage.
In Dagebüll
war der Teufel los. Alle Wartespuren zur Fähre waren besetzt. Ferienbeginn. ‚Von
wegen nichts los‘, dachte Elvira, als sie endlich mit Verspätung im Bauch der „Nordfriesland“
stand und die Handbremse anzog. Sie blieb während der Überfahrt in ihrem Wagen,
griff nach hinten, um sich eine geschmierte Stulle zu angeln. Ein riesiger
Karton nahm die gesamte Rückbank ein. Idiotisch. Sie verstand selbst nicht,
warum sie dieses Ungetüm überhaupt mitgenommen hatte: Quietschgelber Tretbagger
für Jonas zum Weihnachtsfest.
Langsam
schlängelte sich die „Nordfriesland“ durch den Eisgang. Seit einer Woche war es
klirrend kalt und die Nordsee drohte zuzufrieren.
Imke umarmte
Elvira und half ihr, das Gepäck in die Wohnung zu tragen. „Welches Zimmer
willst du?“, fragte sie scherzhaft und zeigte auf die drei Schlafräume.
„Ich werde
nachher würfeln.“ Elvira zog die Daunenjacke aus.
„Du kannst mir
beim Backen helfen. Hauke hat verlängerten Dienst. Alle Fähren sind ausgebucht.
Wegen des Eisgangs fahren sie rund um die Uhr.“
„Das habe ich
gemerkt. Am Fähranleger war mehr los als zur Sommerzeit.“
„Alles
besetzt“, plauderte Imke weiter. „Sylt – Amrum – Föhr – kein Zimmer mehr zu
kriegen. Schau mal hinaus. Da hast du aber Glück gehabt.“
Elvira späte
durch die Fensterscheibe. Inzwischen war es dunkel geworden. Im Laternenschein
erblickte sie dichtes Schneetreiben.
Heiligabend verbrachte
Elvira mit Imke und Hauke. Zuerst besuchten sie eine feierliche Veranstaltung
in der St.-Nicolai-Kirche und schlossen ein gemütliches essen an. Hauke hatte
an den folgenden Tagen Dienst. Inzwischen bedeckte eine dicke Schneedecke die
Insel.
Am zweiten
Weihnachtstag stapften beide Frauen durch die Winterlandschaft von Wrixum nach
Wyk und steuerten den Weihnachtsmarkt an.
„Gönnen wir
uns zur Feier des Tages einen Glühwein.“ Imke zog Elvira zu einem überfüllten Stand,
an dem Weihnachtsmusik trällerte. „Mit Schuss“, bestellte sie. „Haben sich deine
Kinder gemeldet?“ Imke nippte am Becher.
„Nichts. Nicht
einmal Weihnachtsgrüße“, erklärte Elvira traurig. Beiden Frauen orderten einen
weiteren Glühwein, natürlich mit Schuss.
„Bei dir
klingelt‘s“, kicherte Elvira leicht beschwipst.
„Wie bitte?“
Irritiert drehte sich Imke um.
„Deine
Handtasche. Sie klingelt“, wiederholte Elvira.
Imke stellte
den Becher ab und begann in ihrem Beutel zu kramen. „Jetzt ist niemand mehr
dran“, meinte sie, als sie endlich ihr Handy in der Hand hielt. Sie drückte ein
paar Tasten. „Ich muss zurückrufen“, erklärte sie entschuldigend. „Könnte sein,
dass jemand eine Ferienwohnung buchen will.“
„Mit Familienschuss
und Glühwein“, lallte Elvira kichernd.
Imke meldete sich,
lauschte eine Weile schweigend. „Einen Moment.“ Sie reichte Elvira das Handy.
„Ist für dich.“
„Ich vermiete
keine Wohnungen.“
„Geh ran“,
forderte Imke eindringlich auf.
„Ja?“, fragte
Elvira zögernd.
„Mama, wieso
gehst du nicht an dein Telefon?“
„Weil es
nicht klingelt“, antwortete Elvira völlig überrascht.
„Wo bist du?“
„Auf einer
Sandbank und füttere Seehunde. Wie geht es euch?“
„Beschissen.“
Das Gespräch
brach ab. Elvira reichte Imke das Handy zurück. „Ihnen geht’s beschissen“,
sagte sie.
„Sie sitzen
bei uns auf der Treppe und warten“, meinte Imke inzwischen völlig nüchtern.
„Sie haben deinen Wagen vor der Tür gesehen und deshalb mich angerufen, weil du
dich nicht meldest. Wo ist dein Telefon?“
„In der
Handtasche“, erwidert Elvira und kramte darin herum. „Ach je“, sagte sie
reumütig und hielt inne. „Ich hab das dumme Ding nach meiner Ankunft in einem
der vielen Zimmer an die Strippe gelegt und völlig vergessen. Das ist jetzt
bestimmt gut geladen.“
„Deine
Familie auch.“
Als Elvira
und Imke in Wrixum ankamen, war es stockfinster und schneite. Auf der Eingangstreppe
saßen eng aneinandergeschmiegt Antje, Alexander sowie Jonas, mit Schneehäubchen
bedeckt, die im Laternenlicht hell erstrahlten.
„Ach du
heilige Familie“, flüsterte Elvira und hielt sich die Hand vor dem Mund.
„Kommt mal in
unsere warme Hütte.“ Imke öffnete die Tür.
„Wo steht
euer Auto?“, fragte Elvira wortkarg.
„Auf dem
Parkplatz in Dagebüll“, erwiderte Alexander. „Sie transportieren nur noch Autos,
wenn die Leute eine Bleibe nachweisen können. Föhr, Amrum und Sylt sind komplett
ausgebucht.“
„Hm. Habt ihr
Hunger? Ich kann euch Suppe mit Bauer Nielsens Nudeln machen.“
„Ich sterbe
vor Hunger. Wir sind seit zwei Tagen unterwegs und haben heute kaum was
gegessen.“ Antje stellte den Rucksack in eine Ecke. „Können wir bei dir
schlafen?“, fragte sie kleinlaut.
„Sind genug
Zimmer da.“ Elvira öffnete die Türen zu den jeweiligen Räumen. „Da ist ja das
blöde iPhone!“, rief sie erfreut und nahm es von der Strippe.
„Mama.“
Antjes Blick sprach Bände.
Elvira zog
den Kopf ein. „Ich weiß, störrischer alter Esel.“
„Möchtest du
einen Schluck?“, fragte Elvira ihre Tochter und öffnete eine Thermoskanne.
„Was ist
das?“
„Glühwein mit
Schuss. Tut bei Kälte gut.“ Sie saßen in Utersum auf der Bank und schauten
Jonas zu, wie er mit dem quietschgelben Bagger Schneehaufen am Strand
auftürmte. Die Sonne meinte es seit ein paar Tagen gut mit ihnen gut.
„Das war ein
schöner Urlaub“, sagte Antje. Am Vormittag hatten sie in Wyk dem traditionellen
Neujahresschwimmen zugeschaut, an den anderen Tagen ein Puppentheater, Konzerte
und Veranstaltungen besucht. „Toll, dass du morgens früh nach unserer Ankunft
aufs Festland gefahren bist, um Jonas‘ Geschenke zu holen. Er hatte eine
wundervolle Bescherung.“
Elvira füllte
erneut Antjes Becher. „Warum seid ihr überhaupt auf die Insel gekommen?“
„Tirol war
ein Reinfall. Nicht mal Schnee. Das Hotel so designmäßig, dass es nicht zu einem
Weihnachtsbaum reichte. Wir packten Jonas‘ Geschenke gar nicht erst aus. Das
Menü mussten wir auf den Tellern suchen, das Zimmer war eine Eishöhle. Wir
beschlossen, sofort wieder abzureisen und versuchten, dich anzurufen. Du nahmst
nicht ab.“
„Dieses
iPhone muss ständig an die Strippe. Die Akkus taugen nichts.“
„Du bist mir
immer noch böse“, stellte Antje fest und blinzelte ihre Mutter an. „Wegen dem
störrischen alten Esel?“
„Nein, nicht
wegen dem „störrisch. Das ist positiv. Aber „alt“ hätte wirklich nicht sein
müssen. Vielleicht reif oder erfahren?“ Elvira schaute ihre Tochter amüsiert
an.
„Das geht gar
nicht.“ Antje kicherte. „Wie klingt das denn: Du bist ein störrischer, reifer
und erfahrener Esel.“ Sie hielt Elvira erneut den Becher hin.
„Gar nicht
schlecht.“ Elvira grinste. „Hört sich wie eine Liebeserklärung an.“
© Monique
Lhoir 2014
Monique
Lhoir
Sie
schreibt seit dem Jahr 2000 Kurzgeschichten und Romane und verfügt über diverse
Veröffentlichungen. Ihre Liebe gilt Norddeutschland, hier insbesondere den
nordfriesischen Inseln. Im Augenblick arbeitet sie am 6. und letzten Teil des
historischen Romans „Arjan von Föra“.