Foto Lutz Schafstädt |
Der Weihnachtsmann wohnt in Himmelpfort. Für den kleinen
Moritz stand das unumstößlich fest, denn er hatte sein Haus mit eigenen Augen
gesehen. In echt. Das war bei einem Sonntagsausflug im Spätherbst.
Moritz empfand die Fahrt zum Weihnachtsmann nicht einmal
als besonders weit. Im schuckelnden Auto war er schläfrig geworden und fast im nächsten
Moment zogen vor dem Fenster statt Häuserzeilen Bäume vorbei. Berlin war weg,
der Wald war da. Schon bald sagte Papa: "Schaut mal, das Ortsschild.
Himmelpfort. Wir sind angekommen."
Moritz hielt Ausschau, doch sie fuhren in ein
gewöhnliches Dorf mit normalen Häusern und alltäglichen Leuten. Wichtel, Elfen
und andere Helfer des Weihnachtsmanns wohnten hier bestimmt nicht.
Das Haus vom Weihnachtsmann war auch nicht gleich zu
sehen. Zwei Mal um die Ecke herum, auf dem Hof. Moritz besah sich das Häuschen
ungläubig. Das hatte er sich anders vorgestellt. Märchenhafter. Er war nicht
enttäuscht, es war nur anders oder eben gerade nicht anders. Ein Haus wie jedes
andere, dabei klein und alt und nur ganz wenig hübsch.
An der Giebelseite war eine Bühne, leider leer. Vor dem
Eingang standen Tische und Stühle, auf denen Leute mit Kuchen und Kaffee saßen.
Der Weihnachtsmann hatte viel Besuch. Die Tür stand offen, drei Stufen führten
hinauf, drinnen war es hell. Hier wohnte er also. Moritz griff nach Mamas Hand
und hielt den Atem an. Ganz feierlich war ihm zumute.
"Er ist nicht da", sagte eine Frau, die ihm
sein Zögern wohl an der Nasenspitze angesehen hatte. "Das Postamt öffnet
erst nächste Woche."
Moritz war erleichtert. Er fand es viel besser, erst
einmal nur zu schauen. Doch stimmte es auch? Von der Türschwelle der
Weihnachtsstube aus sah er sich um. Zuerst sah er das große Bett. Es war
ordentlich gemacht und Stiefel standen davor. Seinen Sommerschlaf hatte er also
schon beendet. Ein mächtiger Schreibtisch stand da, vor dem Kamin, mit einem
großen Telefon darauf und einem Bild von sich. Darauf sah er aus, wie Moritz
ihn sich vorstellte: mit Rauschebart, roter Mütze und freundlichem Gesicht.
Neben dem Schreibtisch am Ofen stand ein gemütlicher Sessel. Überall lagen
Geschenke und Päckchen herum. Schlitten, Eisenbahn, Schaukelpferd, Puppen,
Bücher. An die Wände waren Bilder von fleißigen Wichteln gemalt. Alles deutete
auf emsige Betriebsamkeit, die Vorbereitungen für das Fest hatten bereits
begonnen.
An einem Tisch neben der Tür saß ein Mädchen und malte
ein Bild. Moritz wollte auch einen Wunschzettel machen, doch Mama schlug vor,
erst einmal draußen spazieren zu gehen und es auf später zu verschieben.
Der Weihnachtsmann wohnte sehr schön. Er hatte eine große
Wiese, einen Spielplatz und sogar einen See mit eigener Anlegestelle. Selbst
eine Kirche hatte er, an der verwunschene Mauerbögen klebten. Und es gab ein
Steinlabyrinth, deren Spirale Moritz entlang lief, bis zur Mitte und wieder
zurück.
Danach war der Tisch in der Weihnachtsstube frei. Während
die Eltern draußen Kaffee tranken machte Moritz sich an die Arbeit. Er malte
eine Feuerwehr, rotlackiert mit schwarzer Leiter und blauer Rundumleuchte auf
dem Dach. Ob der Weihnachtsmann es erkennen würde? Zur Sicherheit schrieb es
Mama dazu: "Lieber Weihnachtsmann, ich wünsche mir ein Feuerwehrauto. Dein
Moritz." Sie schrieb noch mehr, die Adresse, wie sie sagte. Es könnte doch
sein, dass der Weihnachtsmann ihm antworten wollte. Na, das wäre ja was.
Sorgfältig gefaltet rutschte der Brief in den Postkasten, der von einem
geschnitzten Wichtel bewacht wurde.
"Eigentlich schade, dass der Weihnachtsmann gerade
unterwegs war", sagte Moritz während der Heimfahrt. Papa lächelte
vielsagend.
Der Herbst verging und die Adventszeit begann. Moritz
ging auf den Weihnachtsmarkt, fuhr Karussell und bekam Zuckerwatte. Vor dem
Einschlafen wurden jetzt Weihnachtslieder gesungen. Als auf dem Adventskranz
das zweite Lichtlein brannte, kam Post vom Weihnachtsmann. Ein bunter Brief,
den Moritz sich immer wieder vorlesen ließ. Der Weihnachtsmann schrieb, wie hektisch
es gerade bei ihm zugeht, wie fleißig die Wichtel arbeiten und wie er sich
schon darauf freut, ihn und alle Kinder am Weihnachtsabend zu besuchen. Moritz
war begeistert, doch ein klein wenig wunderte er sich, dass mit keinem Wort das
Feuerwehrauto erwähnt wurde. Er hatte es doch nicht etwa vergessen? Mama
meinte, er wird es bestimmt dabei haben, wenn er kommt.
Stolz nahm Moritz den Brief am nächsten Tag mit in den
Kindergarten. Frau Müller las ihn vor und er musste erzählen, wie es beim
Weihnachtsmann aussah. Die Kinder wollten alles ganz genau wissen und einige
waren dabei, die auch schon in Himmelpfort gewesen waren. Annika berichtete
sogar, dass sie den Weihnachtsmann getroffen und ihm die Hand gegeben hatte.
Das fand Moritz mutig und war nicht sicher, ob er selbst sich das getraut
hätte.
Im Kindergarten wurde gebastelt. Frau Müller erklärte,
die fertigen Basteleien seien ein schönes Geschenk. Eine Überraschung. Am
Heiligabend macht man jedem, dem man lieb hat, eine kleine Freude. Das hielt
Moritz für eine tolle Idee. Er fädelte Eicheln, Kastanien und Perlen zu einer
Kette. Die sollte Mama bekommen. Ein Apfelmännchen mit Walnusskopf, Wattebart
und Papiermütze war für Papa.
"So viel Heimlichkeit in der Weihnachtszeit",
sangen sie dabei zusammen. Und Frau Müller sagte: "Wir lassen eure
Geschenke hier im Kindergarten. Erst am letzten Tag vor dem Fest nehmt ihr sie
mit nach Hause. Vielleicht schafft ihr es ja, sie unter euren Betten zu
verstecken und erst am Weihnachtsabend herauszuholen?" Moritz nahm es sich
vor.
Der große Tag kam. Endlich hatte das Warten ein Ende.
Papa holte den Baum vom Balkon und die Kiste mit den Weihnachtskugeln aus dem
Keller. In der Küche wurden Plätzchen ausgestochen und verziert. So aufregend
viel gab es vorzubereiten, doch es wollte heute einfach nicht dunkel werden.
Selbst als die Lampen eingeschaltet wurden hieß es: "Bald. Hab noch eine
Stunde Geduld."
Papa schlug einen Spaziergang vor. Eine kleine Runde,
damit die Zeit vergeht. Moritz holte sofort Jacke, Schal und Mütze. Draußen lag
zwar kein Schnee, aber es war kalt und der Atem dampfte. Auf der Straße
begegneten sie nur wenigen Leuten. In vielen Fenstern war Licht, hinter den
Scheiben leuchtete Weihnachtsschmuck und aus mancher Stube strahlten bereits
die Kerzen des Weihnachtsbaumes.
Da kam ihnen in einiger Entfernung eine dunkle Gestalt
entgegen. Im Schein einer Lampe erkannte
Moritz den Mantel, die Kapuze, den Bart, den Sack über der Schulter. Der
Weihnachtsmann! Was für ein Schreck. Moritz zog seinen Vater an der Hand.
Schnell auf die andere Straßenseite.
Papa lachte. "Wollen wir ihm nicht ein frohes Fest
wünschen?"
Lieber nicht. Warum ihn von der Arbeit abhalten? Zum
Glück sahen sie ihn in einem Haus verschwinden. "Drehen wir um",
sagte Papa. "Ich glaube, Weihnachten hat angefangen." Moritz hatte es
gar nicht mehr eilig.
Zu Hause war bereits vom Flur aus Weihnachtsmusik zu
hören. Mama kam aus der Stube, hinter ihr sah Moritz den Weihnachtsbaum
leuchten.
"Der Weihnachtsmann war da, gerade eben. Ihr hättet
ihm fast noch begegnen müssen."
"Ja, wir haben ihn gesehen", sagte Papa. Moritz
nickte nur und reckte den Hals, um einen Blick unter den Baum zu erhaschen. Da
lagen sie, die Geschenke, in buntem Papier verpackt.
"Langsam", bremste Mama. "Erst die Jacke
aus."
Mit vorsichtigen Schritten ging Moritz ins Zimmer. Es
hatte sich in ein Weihnachtsland verwandelt. Die Kerzen leuchteten, die
Pyramide drehte sich, aus dem Räuchermännchen quoll Weihnachtsduft.
"Auch wenn du den Weihnachtsmann verpasst hast:
Möchtest du nicht zuerst das Gedicht aufsagen, das du im Kindergarten für ihn
gelernt hast?"
Moritz stellte sich neben den Baum und Papa knipste
Bilder, während er seine Reime aufsagte. Dann Applaus, Lob und Küsschen.
"Fröhliche Weihnachten."
Da fiel Moritz ein, dass er auch noch Geschenke hatte. Er
huschte in sein Zimmer, holte die Kette und das Apfelmännchen aus dem Schrank
und überreichte beides.
"Das habe ich für euch gemacht."
"Wunderschön. Das hat du wirklich ganz allein
gebastelt?"
Nach noch mehr Küsschen und Drücken und Knuddeln war es
nun höchste Zeit sich anzuschauen, was der Weihnachtsmann gebracht hatte. Und
wirklich, er hatte das Feuerwehrauto nicht vergessen.
Später, nach dem Essen, wurde mit den Geschenken
gespielt. Moritz sauste mit seiner neuen Feuerwehr unter dem Weihnachtsbaum
entlang und fuhr für den ersten Einsatz die Leiter bis an eine der glitzernden
Kugeln aus. Nebenbei naschte er von den Süßigkeiten und summte selbstvergessen
die Weihnachtslieder aus dem Radio mit.
"Wie heißt das nochmal, wo der Weihnachtsmann
wohnt?" fragte er.
"Himmelpfort", antwortete Papa.
Ein Feuerwehrauto aus Himmelpfort. Wer hätte das gedacht?
Das war sein allerschönster Weihnachtsabend.
Dann drehte Moritz sich um. Mama trug ihre neue Kette,
Papa hatte sein Apfelmännchen vor sich auf dem Tisch.
"Ein bisschen traurig bin ich doch", sagte er.
"Bist du nicht zufrieden mit dem, was der
Weihnachtsmann dir gebracht hat?" Mama blickte überrascht.
"Doch. Aber von euch habe ich gar nichts
bekommen."
Die Eltern schauten sich ratlos an.
"Ihr hättet mir auch etwas basteln können."
Jetzt schmunzelte Papa. "Da hast du Recht. Es war
dumm von uns, dass wir daran nicht gedacht haben."
Nach ein paar Sekunden sagte Mama: "Ich habe
Plätzchen für uns gebacken. Die sind mein Geschenk."
Das konnte Moritz nicht ganz gelten lassen. "Aber
ich habe dir beim Ausstechen geholfen und die Mandeln raufgedrückt."
"Ich habe mich um den Baum gekümmert", sagte
Papa.
Nicht allein, wusste Moritz. "Ich habe beim
Schmücken geholfen."
Das war nicht zu leugnen. Er war eine große Hilfe. Die
Eltern versprachen, sich im nächsten Jahr zu bessern. Moritz vergab ihnen und
widmete sich wieder seiner Feuerwehr.
"Wenn ihr mich nicht hättet", sagte er nach
einer Weile.
"Stimmt. Ohne dich wäre Weihnachten nicht einmal
halb so schön."
---
© Lutz Schafstädt, 2014
© Lutz Schafstädt, 2014
Eine weitere Weihnachtsgeschichte und 17 weitere Erzählungen sind in
seinem Buch "Nadelprobe" enthalten. Seine Bücher sind auf der Autorenseite zu finden.
Lutz Schafstädt ist Jahrgang 1960, lebt in Potsdam und ist Autor. Mehr
Informationen über ihn gibt es auf seiner Website
http://www.lutz-schafstaedt.de
seinem Buch "Nadelprobe" enthalten. Seine Bücher sind auf der Autorenseite zu finden.
Lutz Schafstädt ist Jahrgang 1960, lebt in Potsdam und ist Autor. Mehr
Informationen über ihn gibt es auf seiner Website
http://www.lutz-schafstaedt.de