Illustration von Krisi Sz.-Pöhls |
Wieder einmal schnürte Flavius sein Ränzlein, um sich auf
den Weg zum Weihnachtsdorf zu machen. »Wie schnell die Zeit vergeht«, seufzte
er und strich mit den Händen zärtlich über den Schopf der kleinen Elfenkinder.
»Wenn ihr recht brav seid, bringe ich euch viele schöne Geschenke mit«,
versprach er ihnen. Eilig setzte er sich auf den Kutschbock des Postschlittens,
der von sechzehn Libellen gezogen wurde und mit dem der Weihnachtself die weite
Reise zur Milchstraße unternahm.
Durch die klare Luft ging die Fahrt hoch hinauf zum
Firmament, vorbei an schneebedeckten Dächern, über weiße Felder und wie in
Watte verpackte Berge. Dicke Schneeflocken wirbelten lautlos rund um den
Schlitten, als würden sie zu einer wundersamen Melodie tanzen, bevor sie auf
das Gefährt und seinen Insassen niederfielen. Einige verfingen sich im Bart und
hinterließen ein kleines Rinnsal, welches langsam vom Kinn des Elfen
hinuntertropfte.
Besorgt schaute Flavius auf das nächtliche Himmelsgewölbe.
Er wunderte sich im Stillen, dass die Sternenstube dunkel und verlassen dalag.
Nicht ein Sternchen war zu sehen. Normalerweise funkelte und blinkte es
rundherum nur so um diese Zeit. Unter den grünlich schillernden Leibern der
Zugtiere hatte die Milchstraße wie blank poliert geglänzt. Die Sterne hatten
ihm sonst immer fröhlich zugewinkt und um die Wette gestrahlt. Jedoch nun umgab
ihn arge Finsternis. Er musste seine Augen schon sehr anstrengen, um genügend
zu sehen und nicht vom Wege abzukommen. Damit er nicht irgendwo neben der
Milchstraße im Graben landete, beschloss der Elf anzuhalten und nachzuschauen,
weshalb sich keines der Sternenkinder blicken ließ. »Das hat mir gerade noch
gefehlt«, stöhnte er und zog kräftig an den Zügeln. Eisige Kälte schlug ihm
entgegen, als er sich aus der kuscheligen Decke schälte. Vorsichtig einen Fuß
vor den anderen setzend, tastete er sich durch die Dunkelheit. »Hallo! Hallo,
ist hier jemand?«, rief Flavius zaghaft. Keine Antwort! Es war
mucksmäuschenstill. Plötzlich bemerkte er in der Ferne ein schwaches, kurzes
Leuchten. So, als würde eine Kerze brennen und ihr flackerndes Licht vom
Luftzug ausgelöscht. Das war dem Weihnachtselfen dann doch zu unheimlich. Er
machte kehrt und hastete zurück zum Schlitten. Dort nahm er die Zügel in die
Hand und beeilte sich, um so rasch wie möglich an sein Ziel zu gelangen.
Im Weihnachtsdorf lief Flavius ein kleiner Wichtel über den
Weg.
»Eine weihnachtliche Zeit!«, rief er diesem freundlich den
Weihnachtsgruß entgegen. Aber der Elf bekam keine Antwort, sondern bloß ein
kurzes Kopfnicken als Erwiderung. Verblüfft schaute sich Flavius um und
erkannte, dass irgendetwas im Dorf nicht stimmte oder etwas Schreckliches
geschehen sein musste. Eine tiefe Traurigkeit lag über allem. Sogar das
Orchester schwieg still, wo es doch früher stets mitten auf dem Marktplatz
fröhliche Weisen gespielt hatte. Keinerlei Trompetenklänge schallten über die
Dächer der winzigen Häuser und die Violinen ließen nicht wie sonst zärtlich
süße Melodien erklingen, um sich damit in die Herzen der Zuhörer zu schleichen.
Nicht mal die Saiten der Harfen schwangen übermütig in den höchsten Tönen,
sodass auch ihnen keine perlende Musik entwich. Ja, selbst die Pauken gaben
keinen Laut von sich, obwohl sie in den vergangenen Jahren geradezu Spaß daran
hatten, mit der Keckheit eines donnernden Schlages, so manchen Lauscher zu
erschrecken.
Flugs rannte der Weihnachtself durch die nächtliche Stille
zum Haus des Weihnachtsmannes. Dieser schien bereits auf ihn gewartet zu haben.
»Weihnachtliche Zeit«, begrüßte der alte Mann betrübt seinen treuen Gehilfen.
»Dir ebenso eine weihnachtliche Zeit«, erwiderte Flavius.
Völlig außer Atem sprudelte der Elf sogleich mit den Fragen los, die ihm auf
der Seele brannten. »Was ist passiert? Warum ist es so dunkel? Wieso ist die
Sternenstube leer und warum stehen die Sterne nicht an ihren Plätzen und
leuchten dem Christfest entgegen?«
Erst jetzt bemerkte er, dass der Weihnachtsbote keinerlei
Anstalten machte, in die Werkstatt zu eilen, um den Schlitten mit bunt verpackten
Dingen zu beladen, welche die vielen fleißigen Helfer für die Menschenkinder
getischlert, geschreinert und genäht hatten.
»Nein, mein Freund, es wird wohl dieses Mal kein Christfest
geben«, seufzte der Alte und ließ sich schwer in seinen gemütlichen Lehnsessel
fallen. »Seit Tagen schon hält sich der Stern von Bethlehem versteckt und ohne
seine Anwesenheit fällt die Weihnacht aus. Niemand hat ihn gesehen und niemand
weiß, wo er ist. Überall haben wir nach ihm gesucht, aber keiner konnte ihn
finden. Weil er einfach ohne ein Wort verschwunden ist, sind die Sternenkinder
traurig. Deshalb sind ihre Sternenkränze fleckig geworden und haben keine Kraft
mehr zum Strahlen.«
»Aber warum ist er fortgegangen?« Der Elf wusste sich das
Verhalten des Weihnachtssterns nicht zu erklären. Jahr für Jahr hatte der Stern
über dem Stall gestanden und über das Kindlein in der Krippe gewacht. Mit
seinem goldenen Schweif leuchtete er hell am Firmament und wies den Weisen den
Weg zur Stadt Davids. Er spendete allen Trost, die durch sein strahlendes Licht
das Kind erblickten. Flavius war bitter enttäuscht. Das hätte er von dem Stern
nicht erwartet, dass dieser die Menschen so im Stich ließ.
Der Weihnachtsmann spürte die Bitterkeit des Elfen und fuhr
fort: »Der große Stern hat sich zurückgezogen, weil das wirkliche Weihnachten
vollkommen in Vergessenheit geraten ist. Sicherlich bedeutet es eine schöne
Geste, dass sich alle gegenseitig mit Geschenken erfreuen, so wie die Könige
aus dem Morgenland dem Neugeborenen kostbare Gaben gebracht haben. Allerdings
hat der Weihnachtsstern gemerkt, dass durch den Überfluss an Geschenken der
eigentliche Sinn vom Christfest verloren gegangen ist.«
Die Worte ließen Flavius sehr nachdenklich werden. Verlegen
schaute er auf seine Schuhspitzen. Hatte nicht auch er seinen Elfenkindern
versprochen, viele schöne Sachen mitzubringen und dabei an irdisches Spielzeug
gedacht? Er hatte in den letzten Jahren ebenfalls keinen einzigen Gedanken an
den Stall und den Stern von Bethlehem verschwendet.
Während ihm die Röte bis hinter seine länglich spitzen Ohren
ins Gesicht stieg, vernahm er plötzlich eine zaghafte Stimme, die zuerst ganz
leise und dann immer klarer wurde: »Lieber Stern von Bethlehem, bitte leuchte
meinem Papa auf seinem weiten Weg, sodass ihm kein Unheil geschieht, und bringe
ihn bald wieder gesund zu uns zurück.« Der Elf dachte voller Dankbarkeit im
Herzen an seine Elfenkinder, die zu Hause auf ihn warteten. Beschämt flüsterte
er: »Großer Stern, bitte verzeih mir, dass ich in der Vergangenheit dem
wirklich Wichtigen des Christfestes keine Beachtung geschenkt habe.«
Augenblicklich wurde es im Weihnachtsdorf strahlend hell.
Abertausende kleine glitzernde Sterne funkelten am Himmel und mitten unter
ihnen stand der Stern von Bethlehem. Schalmeienklänge erfüllten die Luft und
die Posaunen erhoben sich aus ihrem Schlaf. Ein Chor sang jubilierend eine
liebliche Melodie. Staunend blickte Flavius in das gütige Antlitz des
Weihnachtsmannes, der ihn lächelnd betrachtete. Das ganze Weihnachtsdorf
erwachte zu neuem Leben und die Dunkelheit wich nun dem strahlenden Licht und
der Freude über das bevorstehende Fest.
Nachdem die letzten Pakete ausgeliefert waren und der Elf
sie unter die Tannenbäume der Menschenkinder gelegt hatte, suchte der
Weihnachtsmann in den Tiefen seines roten Mantels und brachte ein kleines
goldenes Buch zum Vorschein. »Dies ist für dich, mein Freund. Dort steht die
Geschichte der Frohen Botschaft aufgeschrieben, durch welche die Liebe und
Freude in unser Herz einkehrt.« Dankbar nahm Flavius das Büchlein entgegen und
barg es unter seinem Wams. Mit einem fröhlichen »Weihnachtliche Zeit« sauste
der Schlitten mit den prächtigen Rentieren in die sternenklare Nacht hinaus.
Der Weihnachtself winkte dem Davoneilenden nach und flüsterte leise: »Auch dir
und allen Menschen eine weihnachtliche Zeit!« Geschwind sprang er nun
seinerseits in den Postschlitten, der schon auf ihn wartete. Er freute sich,
nach getaner Arbeit, endlich nach Hause zu kommen und trieb die Libellen zur
Eile an. »Sputet euch und fliegt mit Windesflügeln!«, rief er vergnügt.
Fortan las Flavius am Weihnachtsabend seinen Kindern aus dem
kleinen goldenen Buch vor. Mit glänzenden Augen lauschten die Elfen der
Geschichte des Sterns von Bethlehem.
©Marika Krücken
Homepage der Autorin: http://traumzeit-geschichten.de
Kurzvita:
Marika Krücken, geboren 1953 in Uelzen bei Hannover, lebt
mit ihrer Familie in Köln. Sie ist verheiratet und hat eine mittlerweile
erwachsene Tochter. Seit 1985 schreibt die Autorin Kindergeschichten.
Inspiriert durch alltägliche Begebenheiten im Umgang mit ihrer Tochter,
entstand eine Sammlung kleiner Geschichten, die sie in ihrem Buch
Traumzeit-Geschichten mit dem Titel „Winterträume“ vorstellt. Ihr erstes
Kinderbuch wurde im Jahr 2005 veröffentlicht. Seit dieser Zeit hat die Autorin
an verschiedenen Anthologien teilgenommen. 2008 erschien dann „Eine Reise nach
Moskau“, ein Lehrbuch für den Deutschunterricht in Russland.
Im März 2012 wurde ihr Buch „Marienkäfer Siebenpünktchen -
Eine ungewöhnliche Freundschaft" im Pax et Bonum Verlag neu aufgelegt.
Danach folgten zwei Bücher mit einzelnen Geschichten „Die
Geschichtenerzählerin“ und „Weihnachtsduft mit Zimtgebäck“ für jedes Alter
sowie ein zweites Kinderbuch mit dem Titel „Flups & Flaps – Auf
abenteuerlichen Wegen.
Neben der Liebe zur Natur verbindet die Autorin mit ihren
Kinderbüchern zwei weitere Leidenschaften, das Aquarellmalen und das
Geschichtenerzählen. Ihr Ziel ist es, Kindern ein kleines Lächeln auf ihr
Gesicht zu zaubern.
Erschienene Bücher http://pax-et-bonum-verlag.de
Amazon-Autorenseite
Krisi Sz.-Pöhls
ist 44 Jahre alt und lebt recht
zurückgezogen in Oppenheim am Rhein.
Malen
gehört seit ihrer Kindheit zu ihren Hobbys. Mittels Fortbildungen ist die
Autodidaktin Künstlerin geworden.
Sie hat die Illustrationen zu „Der Bär mit der
Brille“, „Klein Henning und der
Delfin“, „Rattenprinzessin
Rapunzel“, „Ratte Prinz im
Weihnachtsbaum“ und „Hopser will helfen“ gemalt.
Mehr von ihr auf ihrer Homepage www.salidaswelt.com
oder bei www.zazzle.de/mbr/238764950947258943