Foto Eva Joachimsen |
Helga Bachmann war es leid. Jedes Jahr am Heiligen Abend
Kartoffelsalat und Würstchen zu essen, mochte zwar Tradition in ihrer Familie
sein, aber in diesem Jahr sollte einmal etwas Besonderes auf den Tisch.
Tagelang hatte Helga emsig in ihren Kochbüchern geblättert und war schließlich
fündig geworden. Als Vorspeise würde es einen kleinen Salatteller geben. Danach
gefüllte Gans, mit selbst gemachten Kartoffelklößen und Rotkohl. Und zum
Nachtisch wollte sie ihren Mann Heinrich mit Vanilleeis und Rumtopffrüchten
überraschen. Den Rumtopf hatte Helga bereits vor Monaten angesetzt. Heimlich
natürlich, denn sie wollte ihren Heinrich keinesfalls auf den Gedanken bringen,
verfrüht von den verbotenen Früchten zu naschen. Schon beim Gedanken an dieses
Festmahl lief Helga das Wasser im Munde zusammen.
Der Zufall wollte es, dass Helga Bachmann wenige Tage vor
Weihnachten einen Werbezettel in ihrem Briefkasten fand.
Aktion: Weihnachten
mit Gans!
Zum heiligen Feste
nur das Beste!
Wunderbare Gänse* von
Bauer Hänse!
Eine kleine Skizze zeigte den Weg zum Hänse-Hof und so
machte sich Helga gleich auf, um eine Gans vorzubestellen.
Der kleine Hof machte einen ordentlichen Eindruck und die
gut genährten Gänse, die neben dem schmucken Bauernhaus auf einer Wiese frei
herumliefen, sahen ausgesprochen zufrieden und glücklich aus.
»Frau Bachmann, ich
versichere Ihnen, Sie bekommen die frischeste Gans, die je eine Küche von innen
gesehen hat. Selbstverständlich liefere ich Ihnen das Tier bis direkt vor die
Haustür. Sie können also den Festtagen ganz gelassen und entspannt
entgegensehen», versprach der Bauer und ein breites Lächeln zog sich über sein
rundes und leicht gerötetes Gesicht.
Der Preis für die Gans war recht hoch, aber wer eine gewisse
Qualität verlangt, muss auch bereit sein, dafür tiefer in die Tasche zu
greifen. Geschmacklich käme eine Tiefkühlgans sicher nicht an die Hänse-Gänse
heran. Helga war zufrieden und zahlte.
Am Mittag des Heiligen Abends, der Weihnachtsbaum stand
bereits geschmückt im Wohnzimmer, klingelte es an der Haustür. Helga stand in
der Küche und bereitete gerade den Salat vor. Zwischendurch überprüfte sie
immer mal wieder die Güte der einzelnen Bestandteile des Rumtopfs. Heinrich,
der ihr hilfreich zur Seite stehen wollte, wurde von Helga aus der Küche
geworfen. Sein Überprüfen stand leider in keinem Verhältnis zu den anderen
anliegenden Arbeiten.
»Machst du mal bitte auf, Heinrich«, rief sie in Richtung
Wohnzimmer. »Das wird Bauer Hänse mit der Gans sein.« Heinrich legte seine Zeitung beiseite, ging
zur Tür, öffnete und … sah direkt in
das schnäbelige Gesicht einer großen weißen Gans. Das Tier trug ein schwarzes
Jacket und hatte eine ebenfalls schwarze Fliege um den Hals gebunden. Höflich
lüpfte die Gans den winzigen Hut auf ihrem Kopf.
»Guten Tag. Gänserich, mein Name. Ich bin bestellt. Darf ich
hereinkommen?« und ohne eine Antwort abzuwarten, schob sich die Gans …
Verzeihung, der Gänserich … an Heinrich vorbei. Den Koffer, den der Gänserich
unter seinen Flügel geklemmt hatte, bemerkte Heinrich erst, als der Vogel ihm
das Gepäckstück einfach in die Hand drückte.
»Helga, die Gans ist da.«
»Hervorragend. Einen Moment, ich komme gleich.«
»Nicht Gans … Gänserich, einfach nur Herr Gänserich«,
bemerkte Herr Gänserich förmlich. »Darf ich vielleicht ablegen?« Schon machte
er Anstalten, seine Jacke auszuziehen und sah sich dabei interessiert im Flur
um.
»Helgaaaa!«, brüllte Heinrich.
»Nun schrei doch nicht so. Macht sie wenigstens einen guten
Eindruck?« Helga wischte die Hände an ihrer Schürze ab und trat in den Flur.
Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen.
»A-a-aber … «, stotterte sie, »aber das ist doch nicht
möglich. Das soll die Gans sein?« »Gänserich«, verbesserte Herr Gänserich und
streckte Helga zur Begrüßung seinen rechten Flügel entgegen. »Hübsch haben Sie
es hier«, stellte er sachlich fest. »Sie gestatten, dass ich mich ein wenig
umsehe und mich mit den Örtlichkeiten vertraut mache?« Und er watschelte gleich
ins Wohnzimmer.
Heinrich zog Helga in die Küche und schloss die Tür.
»Bist du wahnsinnig, Frau? Was zum Henker hast du da
bestellt?« Heinrich raufte sich die wenigen Haare, die ihm im Laufe der Zeit
noch geblieben waren.
»Nur eine frische Gans«, gab Helga etwas hilflos zurück.
»Frischer geht es wohl kaum.« Der Sarkasmus in Heinrichs
Stimme war nicht zu überhören. »Und was machen wir jetzt mit der frischen
Gans?«
»Was sollen wir schon mir ihr machen?« Helga gewann langsam
ihre Fassung zurück. »Du holst jetzt die Axt und haust dem Federvieh den Kopf
ab.« Dabei machte sie eine eindeutige Handbewegung.
»Spinnst du? Ich soll dem Gänserich den Kopf abschlagen?
Nein, meine Liebe, ich … », wollte Heinrich abwehren, aber Helga unterbrach ihn
gleich.
»Stell dich nicht so an, mach es einfach. Sonst gibt es
heute nichts zu essen.« Helga schob Heinrich eine leckere, rumgetränkte Frucht
in den offenen Mund und ihn dabei aus der Küche.
Heinrich holte die Axt aus dem Stall und betrachtete
missmutig die glänzende, scharfe Schneide. Ihm war übel. Er, der keiner Fliege
etwas zuleide tun konnte, sollte nun eine Gans … ähm … einen Gänserich
umbringen? Mit schweißnassen Händen umklammerte Heinrich den Griff der Axt und
schlich in den Flur. Leise öffnete er die Wohnzimmertür und hob die Axt über
seinen Kopf. Herr Gänserich saß friedlich
auf dem Sofa und sah fern.Verdutzt ließ Heinrich die Axt wieder sinken.
Der Gänserich drehte sich zu ihm um. Schnell versteckte
Heinrich die Axt hinter seinem Rücken. »Oh, Herr Bachmann. Möchten Sie sich
vielleicht zu mir setzen?«, fragte der weiße Vogel höflich. »Es läuft gerade
'Ist das Leben nicht schön?'. Ich liebe diese alten Klassiker.« Ein wohliges
Schnattern entwich seinem Schnabel.
»Nein, vielen Dank … später vielleicht«, lehnte Heinrich ab.
»Ich wollte … ja was wollte ich eigentlich? Ach so, ich wollte nur fragen, ob
ich Ihnen vielleicht etwas anbieten kann?«
»Danke, im Augenblick bin ich noch gut versorgt.« Herr
Gänserich wies auf den Teller mit den Weihnachtsplätzchen, von dem er sich
bereits bedient hatte. »Wenn mir etwas fehlt, sage ich Ihnen Bescheid. Ist das
in Ordnung?« Seine kleinen schwarzen Knopfaugen funkelten und fast sah es so
aus, als würde er seinen Schnabel zu einem Lächeln verziehen.
Verflixt noch mal dachte Heinrich. So funktioniert das
nicht. Er konnte doch nicht am Heiligen Abend einem friedlich fernsehenden
Gänserich den Kopf abschlagen. Nein, das brachte er einfach nicht fertig.
Herr Gänserich widmete sich wieder dem Fernsehprogramm und
Heinrich schlurfte mit hängenden Schultern zurück in die Küche.
»Und?« Helga schluckte schnell die Kirsche herunter, die sie
sich gerade eben aus dem Rumtopf gefischt hatte. »Wo ist der Gänserich?«
»Immer noch im Wohnzimmer.«
»Was macht der denn noch im Wohnzimmer? Du solltest doch …«
»Er sieht fern.«
»Was sieht er????«
»Ist das Leben nicht schön?«
»Ich wollte nicht wissen, was … ach, du bist ein
erbärmlicher Feigling, Heinrich. Los gib her.« Helga riss Heinrich die Axt aus
der Hand. »Wenn man nicht alles selber macht.« Ärgerlich stürmte sie an
Heinrich vorbei. Frustriert suchte Heinrich nach einer Erdbeere. Die fand er
besonders lecker. Die Pflaumen schmeckten aber auch nicht übel, stellte er ganz
nebenbei schmatzend fest.
Helga hatte inzwischen axtschwingend das Wohnzimmer erreicht
und stieß nun die Tür mit Schwung auf.
»Psssst!« Herr Gänserich legte die Flügelspitzen an den
Schnabel. »Jetzt kommt die schönste Stelle.
Hören Sie nur 'Immer, wenn ein Glöckchen klingelt, bekommt
ein Engel seine Flügel'. Ach, ich bin immer wieder ganz gerührt.« Und er
wischte sich eine Träne aus den Augen.
Ein weinender Gänserich … das war zu viel für Helga. Die Axt
rutschte ihr aus den Händen und fiel polternd zu Boden. Helga machte auf dem
Absatz kehrt und rannte zurück in die Küche. Dort ließ sie sich auf einen Stuhl
fallen und brach in Tränen aus.
»Was ist denn los?« Heinrich ließ genüsslich eine Himbeere
im Mund zergehen.
»Ich kann es nicht. Ich kann dem Gänserich keine Feder
krümmen«, schluchzte Helga. »Dabei hatte ich mich doch schon so auf den
Gänsebraten gefreut. Was machen wir denn jetzt?« Verzweifelt sah Helga ihren
Mann an, der ihr tröstend eine Weintraube in den Mund steckte.
»Wie wäre es mit Kartoffelsalat und Würstchen?« Herr
Gänserich hatte leise die Küche betreten und strich Helga nun sanft mit seinen
Flügeln über den Kopf.
»Aber ich hatte Sie
doch extra zum Braten bestellt, Herr Gänserich. Da sehen Sie … der Bräter steht
schon für Sie bereit.« Helga wies auf den großen Schmortopf auf dem Herd.
Herr Gänserich reckte den Hals. »Aber Frau Bachmann, Sie
glauben doch wohl nicht allen Ernstes, dass ich in diesen Topf klettere. Nun
sagen Sie bloß, Sie wollten mich
verspeisen?« Vorwurfsvoll sah Herr Gänserich Helga an.
»Ja, deswegen hatte ich Sie doch vorbestellt, Herr
Gänserich. Und weil ich auf ein besonders frisches Exemplar wert gelegt habe,
war ich bei Bauer Hänse. 'Wunderbare Gänse von Bauer Hänse'. Genau das hat auf
dem Zettel gestanden. Ich weiß es noch genau.« Helgas Stimme vibrierte und sie
schnaubte lautstark in ein Taschentuch.
»Frau Bachmann, Sie sollten sich für Ihre Absichten schämen.
Und Sie ebenfalls, Herr Bachmann, denn immerhin haben Sie Ihre Frau bei ihrem
hinterhältigem Plan unterstützt. So eine Tat gehört sich einfach nicht. Schon
gar nicht an Weihnachten.« Herr Gänserich war nun wirklich etwas ungehalten und
sah das Ehepaar Bachmann streng an.
»Haben Sie denn nicht das Kleingedruckte gelesen? Sie
müssten doch wissen, dass man IMMER das Kleingedruckte lesen sollte.« Mit einem
schnellen Flügelschlag zog der Gänserich einen dieser Werbezettel von Bauer
Hänse aus seinem Gefieder hervor.
Aktion Weihnachten
mit Gans!
Zum heiligen Feste
nur das Beste!
Wunderbare Gänse* von
Bauer Hänse“
*NICHT ZUM VERZEHR GEEIGNET!
Teilnehmer der Aktion
'Weihnachten mit Gans' verpflichten
sich, das ihnen überlassene Tier für die Dauer der Weihnachtsfeiertage
bei sich aufzunehmen, es auf eigene Kosten zu versorgen und ihm den Aufenthalt
so angenehm wie möglich zu gestalten.
Nach Beendigung der Aktion
entscheidet ausschließlich das Tier, ob es beim Teilnehmer bis zu seinem
natürlichen Ableben verbleibt oder unverzüglich und selbstverständlich
unversehrt dem Vermittler … hier: Bauer Hänse … übergeben wird.
Wir wünschen viel Vergnügen
bei der Aktion 'Weihnachten mit Gans' und ein gesegnetes Weihnachtsfest.
»Helga!! Hast Du etwa wieder aus Eitelkeit Deine Brille
nicht aufgesetzt?«, schimpfte Heinrich.
Helga zuckte nur mit den Schultern.
»Herr Gänserich, ich möchte mich in aller Form bei Ihnen für
dieses Missverständnis entschuldigen«, sagte Heinrich zerknirscht und bot Herrn
Gänserich schnell einige Johannisbeeren an.
»Schon gut, ich habe ja noch alle Federn beisammen«,
nuschelte der mit Beeren gefüllte Schnabel des Vogels. »Ich schlage vor, Sie
bereiten jetzt den Kartoffelsalat zu, Frau Bachmann. Ich decke in der
Zwischenzeit den Tisch. Herr Bachmann, Sie sind mir doch sicher behilflich
dabei.« Das Angebot des Gänserichs klang versöhnlich und er watschelte wieder
ins Wohnzimmer.
Helga und Heinrich blieben etwas beschämt in der Küche
zurück.
»Herr Gänserich ist wirklich ein kluger Gänserich und Gott
sei Dank nicht nachtragend«, stellte Heinrich fest. »Ich geh ihm mal zur Hand
oder besser gesagt zum Flügel.«
Helga nickte und begann, die Zutaten für den Kartoffelsalat
klein zu schneiden.
Es wurde der merkwürdigste und zugleich wunderbarste Heiligabend,
den Bachmanns je erlebt hatten. Helgas Kartoffelsalat schmeckte wie immer
sensationell und wurde von Herrn Gänserich in höchsten Schnatterlauten gelobt.
Zum Nachtisch gab es Vanilleeis … ohne Rumtopffrüchte. Offensichtlich hatten
diese die Aufregung am Nachmittag nicht überlebt.
Nach dem Essen fand die Bescherung statt. Auch Herr
Gänserich war nicht mit leeren Flügeln gekommen. Aus seinem Köfferchen zauberte
er einige hübsch verpackte Päckchen, die er feierlich Helga und Heinrich
überreichte.
Im Verlauf des Abends erwies sich Herr Gänserich, der bis
dahin etwas steif dahergekommen war, als ausgesprochen unterhaltsamer Vogel. Ob
es nun am Zauber der Weihnacht lag oder an dem nun fruchtlosen Rumtopf, in den
er oft und gerne seinen Schnabel steckte, lässt sich nicht mit Gewissheit
sagen. Aber es heißt, Herr Gänserich habe laut gesungen und zu später Stunde
noch ausgelassen mit Helga getanzt.
Was tatsächlich an diesem Abend passiert ist, konnte am 1.
Weihnachtstag niemand mehr genau beantworten. Heinrich meinte, er hätte in der
Nacht einen großen, mit Pyjama bekleideten, tief schlafenden Vogel auf dem Sofa
gesehen. Helga glaubte, sie hätte Schnattergeräusche, die ähnlich wie »White
Christmas« geklungen haben, gehört.
Da beides vollkommen lächerlich klang, beschlossen Helga und
Heinrich, nie wieder ein Wort über diesen Abend zu verlieren und akzeptierten
stillschweigend den stattlichen Gänserich, der seitdem im Garten der Bachmanns lebte und nie einen
Bräter von innen sah.
© 2014 Martina Pawlak
Martina
Pawlak, schreibt seit einigen Jahren auf diversen Internetplattformen
(überwiegend unter Pseudonym) Kurz- und Kindergeschichten. So entstanden im
Laufe der Zeit auch zahlreiche Fabeln, von denen mittlerweile einige in einem
Buch zusammengefasst und veröffentlicht wurden. Hinzu kamen weitere eBooks für
Kinder. Ebenfalls wurden einige Geschichten in mehreren Anthologien
aufgenommen. Besonders ins Herz geschlossen hat die Autorin allerdings das
ängstliche Gespenst Paul aus der Reihe »Ein Gespenst im Flatterhemd«.
Inzwischen gibt es drei Abenteuer des furchtsamen Geistes, weitere sind in
Planung. Außerdem gibt es zu der Buchreihe »Ein Gespenst im Flatterhemd« eine
eigene Facebook-Seite
https://www.facebook.com/pages/Ein-Gespenst-im-Flatterhemd/643146915758052?ref=hl
Die Autorin, geboren 1967, ist verheiratet und lebt mit Mann, zwei Söhnen und einer Katze am Rande des nördlichen Ruhrgebietes,
Weitere Informationen zu den Veröffentlichungen findet man unter:
http://martinasbuecherkiste.npage.de
https://www.facebook.com/pages/Ein-Gespenst-im-Flatterhemd/643146915758052?ref=hl
Die Autorin, geboren 1967, ist verheiratet und lebt mit Mann, zwei Söhnen und einer Katze am Rande des nördlichen Ruhrgebietes,
Weitere Informationen zu den Veröffentlichungen findet man unter:
http://martinasbuecherkiste.npage.de