Cindy hetzte
durch die Stadt. In beiden Händen trug sie volle Plastiktüten. Eine Woche vor
Weihnachten und erst jetzt hatte sie Zeit, sich um die Weihnachtsgeschenke zu
kümmern. Es war zum Verzweifeln. Aber auf der Arbeit gab es so viel zu tun,
dass sie jede Menge Überstunden schob. Und wenn sie dann endlich nach Hause
ging, war sie viel zu müde um sich noch durch die Geschäfte zu schieben oder in
Ruhe im Internet zu stöbern. Letzten Samstag wollte sie einkaufen, aber nachdem
sie ausgeschlafen hatte, stand ihre kleine Schwester vor der Tür.
„Hallo Cindy,
ich dachte, du brauchst jemanden, der dich aus deinem Trübsinn reist.“ Karo war
eine spontane Studentin. Ein paar Semester mehr oder weniger regten sie nicht
auf. Allerdings musste Cindy ehrlich zugeben, dass Karo ihrer Mutter nicht mehr
auf der Tasche lag, sondern sich ihren Unterhalt selbst verdiente. Kein Job war
ihr zu schlecht. Weder Babysitten, Kellnern, Nachhilfe, Hundesitter oder
Verkäuferin. Selbst bei der Obsternte hatte sie schon zwischen den Apfelbäumen
gestanden. „Lohnt sich überhaupt nicht, davon kann ich ja gerade einmal die
Semesterferien überstehen“, meinte sie hinterher.
„Du, ich
muss heute unbedingt Weihnachtsgeschenke kaufen“, sagte Cindy und wollte sie
schon hinauswerfen.
„Kein
Problem. Ich liebe Weihnachtsmärkte.“
Sie hatte
nicht übertrieben. Jede Kleinigkeit interessierte sie. Überall blieb sie stehen
und spielte mit den ausgestellten Waren. Das Ende vom Lied war, dass Cindy am
Abend völlig erledigt war, weil sie von Stand zu Stand geschoben wurden,
zwischendurch Glühwein, Krapfen, Bratwurst und gebrannte Mandeln in sich
hineingestopft hatten. Dafür hatte sie kein einziges Geschenk besorgt.
Schließlich hatte Karo nicht zugelassen, dass sie früh ins Bett gingen, sondern
hatte sie auch noch ins Kino und hinterher in die Disko gezerrt.
„Ich bin
müde. Ich hatte eine anstrengende Woche.“ Vergeblich. Ihre Argumente hatten ihr
nicht geholfen. Gegen ihre kleine Schwester war sie machtlos.
„Wenn ich schon einmal in der Großstadt bin,
will ich auch etwas erleben.“ Und weil es in ihrer Universitätsstadt keine
großen Kunstausstellungen gab, scheuchte sie Cindy auch noch am
Sonntagvormittag aus dem Bett und schleppte sie zu den modernen Malern.
„Du bist
überhaupt nicht mehr informiert. Meine Güte, es gibt doch auch noch ein Leben
außerhalb deiner Firma“, klagte sie, als sie von Bild zu Bild schlenderten.
Cindy atmete
am Abend auf, als Karo ihren Rucksack packte und wieder verschwand. Sie freute
sich fast auf ihr Büro. Trotzdem ging sie die nächsten drei Tage so früh wie
möglich ins Bett. Und jetzt hatte sie nur noch sechs Tage Zeit für alles,
einschließlich des Gänsebratens, denn Karo und ihre Mutter hatten sich wie
gewohnt bei ihr eingeladen. Sie seufzte. Warum fühlte sie sich bloß für die
Familie verantwortlich? Sie hatte ihren Vater schließlich nicht mit ständigen
Vorwürfen aus dem Haus getrieben. Andererseits hatte sie damals die Rolle des
Familienoberhaupts übernommen. Eine viel zu große Verantwortung für eine
Sechzehnjährige, aber ihre Mutter war dazu nicht in der Lage gewesen. Und sie
hatte auch auf das erhoffte Studium verzichtet, um ihrer Mutter nicht länger
zur Last zu liegen.
In Gedanken
schob sie sich durch die Menschen, die vor den Weihnachtsbuden standen, ohne
auf sie zu achten. Sie wollte in den Fotoladen, der ein paar Meter weiter war.
Überall stieß sie mit ihren breiten Tüten an und kam kaum durch die schmalen
Gassen, die die Leute widerwillig bildeten. Sie nahm den rechten Arm vor die
Brust und trug jetzt die Tüten vor ihrem Körper, um schmaler zu sein. Plötzlich
drehte sich ein Mann um und prallte gegen sie, als sie gerade vorbeiging.
„Aua, können Sie nicht aufpassen?“, fauchte
sie. Ihre beige Wolljacke färbte sich dunkelrot vom Glühwein. Entsetzt
betrachtete sie ihr neues Stück. Wochenlang hatte sie genau diese Jacke
gesucht, und jetzt kippte so ein Depp seinen Wein über die teure Jacke.
(...)
Eva Joachimsen liebt lesen, schreiben und tanzen. Seit vielen Jahren veröffentlicht sie Kurzgeschichten in Zeitschriften. Mehr von ihr erfährt man auf ihrem Blog. Ein Überblick über ihre Bücher gibt es hier.