Für Ronja
In Erinnerung an meine ehemalige
Nachbarhündin
-
ein zauberhaftes Wesen -
mit allerliebstem Dank
für die Inspiration!
I. Ronja
Etwas Seltsames, Ungewohntes fühlte das kleine Herz unter seinen kleinen herzförmigen Füßchen, als es langsam
zu sich kam. Es war noch ganz benommen vom Landemanöver und so verhielt es sich
einige Augenblicke ganz ruhig. So lange bis es spürte, dass das Durcheinander
in seinem Kopf, der sich inmitten seines Herzkörpers befand, langsam nachließ.
Jetzt schaute sich das kleine
Herz um. Es stand auf einer weichen
weißen Fläche. Kalt fühlte es sich an. Auch dieses Gefühl war ganz und gar
ungewohnt für das kleine Herz, denn
dort, wo es herkam, gab es keinen Boden wie hier auf der Erde – und schon gar
keinen Schnee.
Etwas unsicher, aber auch neugierig blickte sich das kleine Herz um. Es hatte sich gut auf
seine Arbeit auf der Erde vorbereitet. Hatte fleißig alles gelernt, was es
wissen musste. Dies war seine erste Aufgabe, für die es ganz allein verantwortlich
war, und es wollte seine Sache natürlich so gut wie nur möglich machen.
Seine Aufmerksamkeit wurde durch ein leises Wimmern geweckt.
Nicht weit entfernt von seinem Landeplatz stand ein grauer Betonbau. Groß war
er nicht und von vorn wurde er von Gitterstäben begrenzt.
Als das kleine Herz
sich näherte, konnte es in der hintersten Ecke ein Fellknäul erblicken, das
mächtig zitterte. Es gab also Grund zur Eile. Ohne weitere Überlegung schwebte
das kleine Herz mit Leichtigkeit durch die Stäbe
hindurch und ließ sich vor dem sonderbaren Fellwesen nieder. Erdenbewohner
hatte es bisher persönlich noch nicht kennengelernt und dieser hier hatte sich
zusammengerollt und seine Nase unter dem Schwanz versteckt. Langsam kam nun
Bewegung in dessen Körper und überhaupt nicht ängstlich schaute das fellige
Wesen das kleine Herz an.
„Wer bist du denn“,
fragte es erstaunt in seinen Gedanken.
Das kleine Herz sprang vor Freude einige Male auf und ab, weil die Verständigung so
gut klappte, und antwortete:
„Ich bin das kleine Herz und gekommen, um dir zu helfen.“
„Mir helfen? Wobei?
Ich habe doch nichts zu tun!“
„Wir haben auf dem
Herzplaneten deine tiefsten, innigsten Wünsche und Sehnsüchte vernommen –
deshalb bin ich hier! Du darfst dich nicht wundern, wenn du heute eine Wandlung
erfährst, für dich und deine Menschen. Sei also ohne Sorge und fürchte dich
nicht, Ronja. Du bist doch Ronja, die Schäferhündin …?“
„Du kennst meinen
Namen – das ist ja toll! Ja, das bin ich – aber ich fürchte mich nicht. Niemals!
Ich bin nur sehr, sehr traurig – und soooo einsam …“ Ein tiefer Seufzer
durchlief die Fellnase.
„Ich weiß. Deshalb
bin ich ja hier und nun wird alles gut! Erzähle mir von dir …“
„Was gibt es da zu
erzählen? Ich bin niemand. Geboren wurde ich auf einem Bauernhof, meine
Menschen hatten mich damals als Hofhund angeschafft. Einige Jahre hatte ich
einen netten Hundekumpel, Carlo, der ist aber vor ein paar Jahren gestorben.
Seit dem bin ich ganz allein. Ich sollte damals den Hof bewachen, dadurch hatte
ich viel Freiheit, rannte den ganzen Tag mit Carlo auf dem Grundstück umher und
abends schliefen wir im warmen Stall bei den anderen
Tieren. Seit wir hier in dieses Haus gezogen sind, habe ich nichts mehr
zu tun. Es gibt nichts mehr zu bewachen, deshalb lebe ich nun in diesem Zwinger,
liege ohne Decke auf dem Beton, kann am Tag höchstens zwei, drei Stunden in den
Garten, aber ansonsten bin ich eingesperrt und allein. An manchen Tagen habe
ich nicht einmal was zu essen, weil meine Menschen mich vergaßen. Und niemand
geht mit mir spazieren, seit die Kinder aus dem Haus sind. Ich kenne nur noch diesen
Teil der Welt … und erhalte keine Zuwendung. Das ist das Schlimmste … Als Carlo
noch da war, ja, da war das alles noch erträglich, aber seit er tot ist, bin
ich einsam und fühle mich unendlich verlassen.“ Ronja ließ ihren Kopf hängen
und das kleine Herz spürte, wie groß der Kummer des Hundes war.
Dabei verfärbte sich das kleine
Herz immer dunkler, der Rotton
wechselte über in ein kräftiges Purpur … was ganz normal war je nach Intensität
des Mitgefühls, das das kleine
Herz mit seinem gesamten
Körperchen spürte.
Liebevoll berührte
das kleine Herz die Hündin mit seinem Energiestab, den
es wie aus dem Nichts hervorzauberte. Aus seinem Herzkörperchen ragten unten zwei
kleine herzförmige Füßchen hervor, die es aber nicht benutzen musste. Es
schwebte normalerweise einige Zentimeter über dem Boden. Rechts und links am
oberen Teil des Körpers hatte es zwei Herz-Händchen an Ärmchen, die es wie
Korkenzieher ausfahren konnte. In diesen beiden Herz-Händchen hielt es nun den
unscheinbaren Stab, der bei Berührung mit einem Erdenwesen zu vibrieren begann
und hier bei Ronja lauter feine blaue und grüne Energiestöße aussandte. Das
aber konnte nur das kleine Herz sehen. Überhaupt war es für menschliche
Augen unsichtbar; nur Tiere, denen zu helfen es hier auf Erden war, konnten das
kleine Herz sehen – wenn es das wollte.
Nachdem es die
Schäferhündin mit Liebe infiziert hatte, machte das kleine Herz sich auf die
Suche nach deren Menschen.
In einem hübschen
Haus unweit von Ronjas Käfig entfernt, erblickte das kleine Herz die Frau, die im Innern herumwirtschaftete. Als es näher kam, hörte
das kleine Herz, wie diese leise ein Lied sang. „Fröhöööliche
Weihnacht überall …“
Da fiel dem kleinen Herz erst wieder ein, dass es sich für seinen ersten Besuch auf der Erde
dieses besondere Datum ausgesucht hatte: Heiligabend – da wünschten sich alle
Menschen Frieden und Liebe! Wenn das nicht ein guter Anfang war …
Die Frau sah das kleine Herz nicht, als es in die Küche schwebte. Es war ja für das menschliche
Auge unsichtbar. Aber sie spürte seine Anwesenheit in ihrem tiefsten Innern.
Denn die liebevolle Energie, die das kleine
Herz ausstrahlte, war allseits stark
zu spüren. Die Frau hielt inne in ihrer Tätigkeit und schaute sich irritiert um.
„Jens, Jeeeens … hast
du was gesagt …?“
Doch außer ihr war niemand
in der Küche. Als sie um die Ecke schaute, sah sie ihren Mann im Wohnzimmer vor
dem Fernseher sitzen mit einem Kopfhörer auf dem Kopf.
„Seltsam …“, murmelte
sie vor sich hin.
Das kleine Herz zögerte nicht lange, denn es hatte noch viel zu tun! Es zog seinen
magischen Stab hervor, schwebte empor und berührte den Mittelpunkt des Herzens von
Ronjas Frauchen. Der Stab begann zu vibrieren und sandte feine Blitze aus in
allen Farben des Regenbogens. Es war deshalb so besonders intensiv, weil sie so
verhärmt, verbittert und traurig war.
Mit einem Mal
strömten Tränen über das Gesicht der Frau, sie weinte und weinte viele Tränen –
sie konnte überhaupt nicht mehr aufhören. Ganz erschüttert war sie, aber sie
weinte still und leise.
Sie dachte: „Was
ist bloß los mit mir. So habe ich ja lange nicht geweint … eigentlich nicht
mehr seit damals …“ Sie erinnerte sich an ihren kleinen Hund, den sie als Kind
zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Wie hatte sie dieses Tier geliebt! Es
sollte immer bei ihr sein und auch bei ihr im Zimmer schlafen, so hatten die
Erwachsenen es versprochen! Doch bald schon hatten die Eltern das geliebte
Tier, nachdem es ausgewachsen war, in einen Zwinger gesteckt und es geschlagen,
wenn es versuchte, zu seiner kleinen Freundin ins Haus zu gelangen. Das Kind durfte
nicht mehr mit ihm spielen, damit der Rüde nicht zu menschenbezogen wurde. Ein Hund
hatte zu gehorchen, sollte aggressiv und aufmerksam sein, den Hof hüten und
nicht mit Kindern kuscheln. Doch dieser treue Hund war ganz und gar friedvoll, vollkommen
frei von Aggression, geschweige denn Boshaftigkeit. Er jaulte viel und oft, weil
er nicht zu seiner kleinen Freundin konnte. Da wurde er eines Tages von dem
Vater mitgenommen und dieser kehrte ohne Bello, wie das kleine Mädchen ihn
genannt hatte, zurück. Seitdem war das Tier verschwunden. Und das Kind hatte daraufhin
sein Herz verschlossen. Für immer und für jeden! Nie mehr wollte es leiden! Nie
mehr wollte es zulassen, dass man ihm wehtat. Und kein Hund sollte sich mehr in
sein Herz stehlen. Seit dem Tag hatte sich das Mädchen, auch nachdem es
erwachsen geworden war, vor der Liebe ganz verschlossen.
Und nun
durchströmten sie Gefühle der Liebe, wie sie sie noch nie gespürt hatte. Es war
so, als flösse sie über vor Liebe. Sie ließ die Gans, die sie bei Eintritt des kleinen Herz zu füllen begonnen hatte, fallen und starrte das tote Tier an. Was habe ich getan?, durchfuhr es sie! Wie konnte ich bloß diese
Gans kaufen, womit ich mich mitschuldig an ihrem Tod machte. Sie schlug die
Hände vor ihr Gesicht und schluchzte erneut, rannte ins Wohnzimmer und stieß
fast mit ihrem Mann zusammen. Dieser war aus dem Sessel aufgestanden und
starrte wie gebannt auf eine Stelle an der Wand hinter ihr. Er schien der Welt
entrückt.
Das kleine Herz hatte sich nämlich inzwischen schon bei dem Mann ans Werk gemacht und
sein Herz mit Liebe infiziert. Das war für den kaltherzigen, gleichgültigen
Ehemann so ungewöhnlich, dass er sich erst sammeln und schütteln musste wie ein
nasser Hund, um diese hohen Energien zu verkraften. Der kleine Zauberstab tat
aber ganze Arbeit. So stark bebte er, dass es in alle Richtungen grelle Funken
sprühte – immer und immer wieder.
„Lieber, was ist
mit dir?“, fragte seine Frau sehr sanftmütig.
„Ich … ich weiß
auch nicht, mir ist auf einmal so seltsam zumute – so ganz und gar ungewöhnlich
fühle ich mich … so leicht und …“ Er machte eine Pause und blickte seine Frau
an, als sähe er sie zum ersten Mal. Ist sie aber hübsch, dachte er bei sich, so
habe ich sie früher nie wahrgenommen. Was für eine schöne Frau sie doch ist.
„Oh, du Lieber. Ich
fühle mich auch ganz beschwingt und könnte jubeln und die ganze Welt umarmen.“
Sie fiel ihrem Mann um den Hals und sie küssten sich wieder und wieder. „Aber
noch mehr fühle ich mich erfüllt von Liebe für unsere Ronja … ich möchte sie
ins Haus holen und ich möchte sie umarmen und herzen und ihr hier ein
gemütliches Plätzchen geben – hier an unserer Seite.“
„Da hast du recht,
ich glaube, sie hat sehr gelitten, weil wir sie da draußen allein ließen und uns
ihr gegenüber gleichgültig verhielten.“
„Dann lass uns
sofort zu Ronja gehen und später, wenn die Kinder kommen, alle gemeinsam einen
schönen Spaziergang machen.“
Sie gingen hinaus
zum Zwinger, wo Ronja schon schwanzwedelnd wartete. Sie konnte die Gefühle, ja
sogar die Gedanken ihrer Menschen wahrnehmen und wusste, was sie dachten und
fühlten. Die beiden öffneten den Zwinger, ließen Ronja hinaus und verschlossen die
Gittertür für immer. Sie tobten mit dem Hund durch den Garten, spielten
Verstecken wie die Kinder und waren ganz außer Atem, als ihre beiden erwachsenen
Söhne kamen, die mit den Eltern Weihnachten feiern wollten.
Auch die beiden Jungs
wurden von dem kleinen Herz infiziert, und so voller Liebe machte sich
die Familie auf einen langen gemütlichen Weihnachtsspaziergang im Schnee –
selbstverständlich mit Ronja, die immer noch glaubte zu träumen. Später saß
man zusammen beim Weihnachtsessen – aber niemandem wollte die Gans schmecken
und man beschloss, sich ab sofort frei von Tierleid zu ernähren. Denn man
wollte wirklich friedlichen Herzens leben. Ab diesem Heiligabend gehörte Ronja
zur Familie und lebte mit ihren Menschen im Haus. Nach den Feiertagen sollte der
Zwinger abgerissen werden.
Das kleine Herz besah sich das
Glück, das in dieses Haus eingezogen war, und war zufrieden mit sich. Seine
erste Aufgabe hatte es großartig bewältigt – und noch unzählige Tiere warteten
darauf, dass die Herzen der Menschen mit Liebe für sie alle erfüllt wurden …
Aber das kleine Herz war sich sicher, das würde es auch noch
schaffen. Dazu war es schließlich gesandt worden, das kleine Herz vom Herzplaneten …
Vita
Birgit Maria Hoepfner alias Rosa Rubin wurde im
Rheinland geboren und zog 2009 in ihre Wahlheimat nach Schleswig-Holstein an die
Ostsee.
Seit Anfang der 90er arbeitete sie freiberuflich
für Verlage und seit 2014 ist sie als Lektorin und Korrektorin für Indie-Autoren
und Verlage tätig. www.textewerkstatt.de
Ihre Leidenschaften sind das Schreiben
- das Jonglieren und „Malen“ von Bildern mit Worten - sowie Meditation, Tiere
und vegane Ernährung. Ihr erster Roman „Ein Klang der Seelen“ erschienen 2008
und handelt von ihrem Lebenstraum „Victorias Welt“, einer Begegnungsstätte mit
Tieren und Menschen. www.victoriaswelt.de.