Montag, 21. Dezember 2020

Leseprobe aus „Sternenstaub und Weihnachtswünsche“ von Ramona Stolle



Der goldene Zug 

Mirella träumte mit offenen Augen. Sie tauchte ein in fremde Welten, durchstreifte nie gesehene Landschaften und lernte Menschen, Tiere und Wesen kennen, die es in ihrem wirklichen Leben gar nicht gab.

„Es fühlt sich an wie echt“, hatte sie ihrer Mutter mal erzählt. “Ich lebe in meinen Träumen.“

Manchmal geschah es, dass sie ihre Tagträume mit in die Nacht nahm. Kaum war sie eingeschlafen, dann ging die Geschichte, die sie sich eben ausgedacht hatte, im Traum in allen Einzelheiten weiter.

Aber hatte sie sich das wirklich alles nur ausgedacht oder gab es  eine Welt außerhalb ihrer Realität, in der sie mit Mama und Papa lebte? Diese Frage konnte sie nicht beantworten, aber das war nicht weiter schlimm. Sie saß weiterhin stundenlang am Fenster, auf der Couch oder auf ihrem Bett und sah die Geschichten völlig real vor sich.


Eines Morgens wachte Mirella auf, rieb sich die Augen und starrte zur Decke. Heute war etwas anders. Zum ersten Mal konnte sie sich nicht an ihre Erlebnisse erinnern. Das war noch nie geschehen.

„Ich habe meinen Traum verloren“, sprach sie verzweifelt, sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. Dicke Schneeflocken schwebten durch die Luft. Mirella starrte sie an und rief mit schriller Stimme: „Ich habe meinen Traum verloren und weiß nicht, wo Linja geblieben ist!“

Da tanzte eine goldene Schneeflocke direkt vor ihrer Nase auf und ab. Sie fiel nicht nach unten, so wie die anderen, sondern flog auf das Fenster zu und klopfte sachte gegen die Scheibe.

„Du musst den Zug nehmen“, sprach sie und ihr Atem beschlug das Glas und bildete einen goldenen Nebel. „Beim nächsten Vollmond nimmst du den goldenen Zug. Auf halber Strecke wirst du Linja finden und kannst ihr helfen, rechtzeitig das Weihnachtsland zu erreichen.“

Mirella begann, sich zu erinnern. Vor langer Zeit schon hatte sie Linja, die kleine Weihnachtselfe, kennengelernt. Regelmäßig trafen sie sich und plauderten. Linja flog den langen Weg vom Weihnachtsland bis zu Mirella in wenigen Minuten. Ihre Flügel trugen sie sicher durch die Luft, dafür benötigten sie nur wenige Krümel vom himmlischen Sternenstaub.

„Der Sternenstaub reichte diesmal nicht“, schrie Mirella, „Linja ist abgestürzt, irgendwo zwischen hier und dem Weihnachtsland.“

„Ja, ja“, stimmte die Schneeflocke zu, „du musst ihr den Sternenstaub bringen, sonst fällt Weihnachten aus!“ Mit diesen Worten warf sie ein Amulett auf das Fensterbrett und verschwand. Mirella öffnete das Fenster, griff nach dem Amulett und wurde plötzlich von einem Windstoß fortgetragen. Sie wusste nicht, wo sie war und was geschah. Sie drehte sich um sich selbst, ihre langen Haare flogen wild durcheinander und der Vollmond blendete sie. Mirella konnte nicht sagen, wie lange sie geflogen war, aber als sich die Welt um sie herum wieder beruhigt hatte, saß sie auf einem watteweichen Sitz mit Fensterplatz im goldenen Zug. Sie trug einen weißen Mantel und einen passenden Hut, schwarze Stiefel und Handschuhe. Mirella blickte an sich herab und stellte fest, dass sie die Sachen noch nie zuvor gesehen hatte, aber das war eben das Fantastische an ihren Träumen. Es geschahen immer ganz unvorhergesehene Dinge!

„Das Amulett!“ Mirella zog die Handschuhe aus und durchsuchte die Manteltaschen. Da war es! Zum Glück! Nun musste sie nur noch Linja finden. Wo konnte die Elfe nur sein? Mirella wollte gerade aufstehen, da bremste der goldene Zug und stand gleich darauf still. Mirella öffnete das Fenster. Eiskalte Schneeluft blies ihr ins Gesicht und sie wollte schon zurückweichen, als sie eine feine Stimme rufen hörte: „Hilf mir, Mirella, ich bin hier!“

Mirella beugte sich weit hinaus und suchte den Schnee ab. Es war stockfinster, doch die Eiskristalle blendeten und erhellten die Nacht. Da sah sie das kleine Wesen mit den spitzen Ohren und den samtweichen Flügeln, die von der Kälte ganz starr waren.

„Linja, komm näher!“, schrie Mirella und holte das Amulett aus der Tasche. Da ruckelte es, der Zug setzte sich wieder in Bewegung, allerdings im Rückwärtsgang.

„Die Gleise ist verschneit. Wir kehren um.“ Mehr sagte der Schaffner nicht, doch es reichte, um Mirella in Panik zu versetzen. Sie hielt Ausschau nach der Freundin, die nur langsam näher kam.

reflektor-elfe-fee„Fang!“, schrie Mirella aus voller Kehle und warf das Amulett in den Schnee. Sie hoffte, dass Linja es finden würde, während der Zug davonraste. Mirellas Herz pochte laut vor Aufregung und Angst um die Freundin.

Da flog die kleine Elfe am Zugfenster vorbei.Mit all dem Goldstaub auf ihren Flügeln 

erhellte sie die Nacht. Sie winkte freundlich, bevor

sie die Richtung wechselte und  Kurs auf die Weihnachtsstadt nahm, wo sicherlich schon alle Elfen auf sie warteten. 

Als Mirella am Morgen erwachte, war sie sehr erleichtert, denn nun wusste sie, dass sie ihren Traum und ihre Freundin niemals verloren hatte. Und spätestens zum Weihnachtsfest würde sie Linja wiedersehen.

   
Noch mehr Weihnachten…

www.ramonastolle.de.to  

   

Ramona Stolle – Ich lebe und schreibe  in meiner Heimatstadt Berlin für kleine und große Leserinnen und Leser.

Mit neun Jahren schrieb ich meine erste Geschichte auf einer alten Schreibmaschine im „Zwei-Finger-Suchsystem“, als Teenager führte ich regelmäßig Tagebuch, als Studentin der Grundschulpädagogik belegte ich Kurse in Literaturwissenschaft und als Lehrerin ließ ich meine Schüler Geschichten und Gedichte erfinden und niederschreiben.

Im Jahr 2009 nahm ich endlich mit einem Elfchen an einem Wettbewerb teil, und es wurde tatsächlich veröffentlicht. Mittlerweile sind zahlreiche Geschichten und Gedichte bei verschiedenen Verlagen von mir erschienen.

Das Weihnachtsbuch „24 Weihnachtstage“ war mein erstes eigenes Buch. Mittlerweile habe ich elf Bücher veröffentlicht. 2019 veröffentlichte ich im MTM Papierfresserchen Verlag mein sechstes Weihnachtsbuch.

Und ich bin sicher….es werden noch mehr.