Samstag, 12. Dezember 2020

Der Traum-Engel von Ingeborg Höverkamp

Drei Tage vor Weihnachten erschien einem alten Mann im Traum ein Engel und sprach zu ihm:"Morgen werde ich dich besuchen. Halte dich bereit." Am nächsten Tag holte der Mann seinen Sonntagsanzug aus dem Schrank und kleidete sich mit großer Sorgfalt an, dann ging er in den Keller, um seine beste Flasche Wein heraufzuholen, briet zwei Tauben und kochte Nudeln und Rosenkohl dazu. Dann setzte er sich in seinen Lehnstuhl, um auf den Engel zu warten.

Nach einer Weile klingelte das Telefon. Sein Freund aus Kindertagen, der seit einiger Zeit krank war und das Haus nicht mehr verlassen konnte, wünschte ihm <Frohe Weihnachten> und begann zu erzählen, dass er im Krankenhaus war und ... "Hör zu", unterbrach ihn der alte Mann ungeduldig. "Ich bekomme gleich Besuch. Jetzt habe ich keine Zeit" und legte den Hörer auf.

Bald darauf klingelte es an der Haustür. "Das wird der Engel sein", dachte er und eilte zur Tür. Aber nur das kleine Nachbarsmädchen stand vor der Tür:"Erzählst du mir eine Geschichte, bitte! Du kannst so schön erzählen!" - "Heute habe ich keine Zeit", rief der Hausherr, "ich erwarte Besuch" und schlug dem Kind die Tür vor der Nase zu.

Ärgerlich über diese erneute Störung ließ sich der alte Mann in den Lehnstuhl fallen und seufzte. Dicke Schneeflocken wirbelten vor seinem Fenster. Langsam wurde es dunkel. <Ob der Engel erst kommt, wenn es finster ist.> Er erinnerte sich nun an die Zeit, als seine Frau noch lebte und das ganze Haus in der Vorweihnachtszeit nach ihrer köstlichen Vorweihnachtsbäckerei duftete. Da riss ihn die Türklingel aus seinen Gedanken.

Mühsam erhob er sich, steif geworden vom langen Sitzen, und öffnete die Tür einen Spalt breit. Im Schein der Hauslaterne sah er einen jungen Mann. Der Schnee fiel in dicken schweren Flocken. Irgendetwas Unförmiges kauerte im Halbdunkel am Gartenzaun. "Entschuldigen Sie bitte", sagte der junge Mann, "aber wir haben bei Ihnen noch Licht gesehen. Wir sind mit unserem Auto in einer Schneeverwehung stecken geblieben." Und hastig fuhr er weiter:"Wir sind nämlich auf dem Weg ins Krankenhaus. Meine Frau bekommt ein Kind. Es ist eilig." - Als der Besucher den mürrischen Gesichtsausdruck des alten Mannes sah, setzte er bittend hinzu:"Können Sie uns helfen?" - "Tut mir Leid", antwortete der Alte. Ich warte auf Besuch und kann jetzt nicht weg gehen. Aber hier, neben der Treppe, ist eine Schaufel, die kann ich Ihnen leihen." Sogleich schloss er die Haustür und schlurfte, müde geworden, zu seinem Lehnstuhl zurück. <Noch eine Stunde werde ich warten, es ist ja kurz vor Mitternacht.> Er legte noch drei Holzscheite in den Kamin, breitete eine Wolldecke auf seinem Lehnstuhl aus und wickelte sich darin ein. Bald schon fielen ihm die Augen zu.

In seinem Traum kam von ferne der Engel auf ihn zu, umstrahlt von einem hellen überirdisch schönen Licht, und blickte ihn traurig an:"Drei Mal wollte ich Dich besuchen und drei Mal hast du mich abgewiesen!"

Beim ersten Morgengrauen erwachte der alte Mann. Das Feuer im Kamin war längst erloschen und er fröstelte. Bevor er aufstand, um sich einen Kaffee zu kochen, dachte er über seine beiden Träume nach. "Ich glaube, ich habe die Botschaft des Engels verstanden", sagte er in die Stille des Raumes hinein. Und von diesem Tag an, begann der alte Mann, sein Haus und sein Herz für seine Mitmenschen zu öffnen.

 ©Ingeborg Höverkamp

Geschichte aus:

Weihnachten - Vom Wintermärchen zum Stall von Bethlehem

Das Buch ist eine wundervolle Einstimmung auf die Weihnachtszeit. 24 Autorinnen und Autoren haben in ihr Schatzkästchen gegriffen und heitere und besinnliche Geschichten rund ums Fest beigesteuert. Diese festliche Anthologie ist auch ein ideales Weihnachtsgeschenk.
Ingeborg Höverkamp, die Herausgeberin, hat eine bunte Mischung an literarischen Texten gesammelt: Märchen, Sketche, ironische Texte, Erzählungen zum Brauchtum an Weihnachten, ein Briefdokument aus sibirischer Gefangenschaft, spannende Begegnungen, Geschichten aus der Kindheit, biblische Begebenheiten und vieles mehr. Die Geschichten drehen sich um den Zauber der Weihnacht, den Nürnberger Christkindlesmarkt, das Weihnachtsfest im Erzgebirge, um eine Krippenfigur, die an Heiligabend lebendig wird, Pannen beim Weihnachtsessen, eine Weltreise rund um den Weihnachtsstern und um die Hirten, denen ein Engel die Geburt des Messias verkündet.

Weihnachten - Vom Wintermärchen  zum Stall von Bethlehem, Hg Ingeborg Höverkamp, ein Lesebuch, Allitera-Verlag, München, ISBN: 3869069848, im Buchhandel erhältlich
 



 

Ingeborg Höverkamp ist freie Autorin und lebt in der Metropolregion Nürnberg. Sie ist auch Dozentin an der Akademie des CPH Nürnberg für Autobiografisches Schreiben und hat bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht, u.a. eine Biografie  "Elisabeth Engelhardt - eine fränkische Schriftstellerin", den Roman "Zähl nicht, was bitter war", den Krimi "Tödlicher Tee" und die beiden Anthologien "Nie wieder Krieg" und "Von der Trümmerstadt zur Frankenmetropole". Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Elisabeth-Engelhardt-Literaturpreis und der Aufnahme in das Internationale Lexikon "Outstanding Writers of the 20th Century.