Donnerstag, 10. Dezember 2020

Weihnachten früher bei uns: Wo ist Mia? Von Rotraud Falke-Held


Advent war für Lena und ihre drei Geschwister immer die schönste Zeit des Jahres. Sie buken Plätzchen, bastelten Weihnachtsschmuck und sangen Lieder bei Kerzenschein. Mama oder Oma lasen aus einem dicken Buch vor. Es war eine ganz besondere Stim­mung. Weihnachtlich eben. Aber heute war es anders.

Lena suchte ihre Lieblingspuppe. Und da Mama beim Einkaufen war, rannte sie zu ihrer großen Schwester Karin.

„Mia ist weg!“ heulte sie. „Mia? Was soll schon mit ihr sein“, antwortete Karin gleichgültig. „Du wirst sie irgendwo verschludert haben.“

„Hab ich bestimmt nicht!“ beharrte Lena „Es ist gemein, so was zu sagen.“

„Natürlich hast du. Weißt du noch? Einmal hast du sie im Sandkasten vergessen. Eine ganze Nacht lang musste Mia dort verbringen.“

Lena nickte. „Da war ich noch vier. Heute mit fünf passiert mir das nicht mehr.“

Tja, wo also konnte Mia sein? Lena war sicher, dass sie Mia nicht irgendwo liegen gelassen hatte. Dann kam Karin eine Idee. „Sicherlich hat der Nikolaus Mia mitgenommen.“

„Der Nikolaus?“ Jetzt war Lena verwirrt. Karin musste lachen. Toll, dachte Lena. Die kommt sich wohl sehr erwachsen vor mit ihren zwölf Jahren. Sie hörte auf zu weinen und starrte ihre Schwester böse an.

„Warum lachst du?“ Wütend schlug sie mit der Hand nach Karin.

„Ist ja gut“, prustete die und versuchte, sich das La­chen zu verkneifen. Lena war wirklich verzweifelt.

„Hat Mama dir das denn nicht erklärt?“

„Was denn?“ fragte Lena und wurde immer verwirrter. „Schau“, erklärte Karin. „Der Nikolaus nimmt manchmal Puppen mit, damit die Engel ihnen im Himmel neue Kleider nähen.“

„Aber ich will Mia wiederhaben!“

„Weihnachten bringen die Engel sie wieder mit. In ihren neuen Sachen. Du wirst sehen.“

Lena zog laut die Nase hoch und wischte sie mit dem Pul­loverärmel ab.

„Stimmt das auch wirklich?“ schniefte sie. Karin nickte.

„Das ist noch sooo lange.“

„Es dauert eben seine Zeit, Kleider zu nähen.“

Karin nahm die kleine Schwester fest in den Arm.

„Was ist denn jetzt mit ihr los?“ dachte Lena. Sie war sehr überrascht von diesen plötzlichen Zärtlichkeiten.

„Mia wird es im Himmel sehr gut haben. Und sie hat andere Puppen zum Spielen.“

„Aber ich habe Mia nicht!“ beharrte Lena. Jetzt klang sie ärgerlich.

Wieso nahm der Nikolaus Puppen mit, um sie im Himmel neu einzukleiden? Konnte das Christkind nicht ein­fach neue Kleider bringen?

„Bei mir ist es auch so gewesen. Und bei Mama auch“, erklärte Karin. „Das geht wohl allen Puppenmüttern so. Die Zeit geht schnell vorbei und dann hast du sie wieder.“

Ganz plötzlich machte sich Lena aus Karins Arm frei und stapfte davon.

„Muss ich wohl mit Freddi Bär und Susi spielen.“

Karin zuckte die Schultern.

Lena fragte nach diesem Gespräch nie wieder nach Mia. Sie war beruhigt und litt nicht sehr unter der Trennung. Aber sie wartete noch sehnsüchtiger auf den Heiligen Abend, auf das Christkind und auf Mia.

 

Und dann kam der Heilige Abend. Die Familie verbrachte ihn wie immer. Mit Fernsehen, Singen, Spielen… Und doch  kam er den Kindern sooo lang vor. Besonders Lena war ungeduldig und hoffte, dass sie wirklich Mia wiederbekommen würde. Erst als es dunkel war, wurde endlich das Weihnachtszimmer geöffnet. Was für eine Pracht strahlte ihnen entgegen. Sie stimmten „Oh Tannen­baum“ an. Lena riskierte verstohlen einen Blick auf ihren Platz. Und da saß – Mia. Die kleine, alte, neue Mia. Sie trug ein nagelneues kariertes Kleidchen und einen passenden Hut. Und sie lächelte ihr zu, da war Lena ganz sicher. Sie stieß einen Freudenschrei aus und vergaß augenblicklich „Oh Tannenbaum.“ Sie schoss an allen vorbei, stürzte auf Mia und riss die Puppe an sich. Sie war selig. Und Mia war auch selig, wieder bei ihr zu sein. Als sie sich freudestrahlend umdrehte, bemerkte sie, dass Karin und die Mutter sie beobachteten. Und Lena erinnerte sich, was Karin gesagt hatte. Ob die beiden es wohl ähnlich erlebt hatten, wenn sie ihre eigenen Puppen inmitten all diesem Glanz wieder gefunden hatten?

Autoren-Vita:

Rotraud Falke-Held entdeckte schon in der Grundschulzeit ihre Freude am Schreiben, doch zunächst absolvierte sie eine solide kaufmännische Ausbildung.

Nach der Geburt ihrer Kinder - in den Jahren 2000 und 2001 – gab sie zunächst ihre Berufstätigkeit auf. Sie begann, sich spannende Geschichten auszudenken – zunächst nur für ihre eigenen Kinder.

2009 erschien ihr erstes Kinderbuch „Der kleine Bär Tapp“ im Monolith Verlag.

Seither sind einige Kinder- und Jugendbücher von ihr erschienen und inzwischen auch Romane für Erwachsene.

Rotraud Falke-Held lebt mit ihrem Mann, zwei erwachsenen Kindern sowie zwei Hundedamen in Büren.  

www.rotraud-falke-held.de

Erschienen sind bisher:

Der kleine Bär Tapp, Vorlesegeschichten für Kinder ab 3 Jahren

Zauberbann über MYSTICA, für Kinder ab 7 Jahren

Geheimnis im Moor, Abenteuergeschichte für Kinder ab 7 Jahren

Rubinstern: Das verlorene Land, für Jugendliche ab 10 Jahren

Rubinstern: Die Heiligtümer der Ahnen, ab 10 Jahren

Die Hexenschülerin-Trilogie für Jugendliche ab 12 Jahren + für Erwachsene:

- Die Zeit des Neubeginns

- Die Zeit der Wanderschaft

- Die Zeit der Rückkehr

Die Erben der Hexenschülerin: LUZIA

Elodie: Das Weltentor, Fantasy für Jugendliche ab 10 Jahren

Und für Erwachsene
:

Was vergangen ist…, ein mystisch gefärbter Krimi

Das Portrait, ein Frauenkrimi

IMOGEN, die Suche nach einem Geheimnis der Vergangenheit