Sonntag, 20. Dezember 2020

Ein Geschenk in letzter Minute von Eva Joachimsen

Ungeduldig warteten Marion und ihre Kolleginnen Lea und Annika darauf, dass endlich die Durchsage zum Verlassen des Kaufhauses kam und sie Heiligabend feiern konnten. Seit Wochen waren sie im Dauerstress, der mit jedem Tag zunahm. Warum konnten die Leute das Fest nicht planen und alles rechtzeitig besorgen? Schließlich kam Weihnachten doch jedes Jahr am 24. Dezember. Marion hatte die wenigen Geschenke, die sie benötigte schon vor Wochen besorgt, ebenso wie die beiden jungen Frauen. Je weiter die Zeit voranschritt, desto ungeduldiger und gereizter wurden die Kunden. Aber sie mussten immer freundlich bleiben und lächeln, egal wie ekelhaft die Leute waren. Das Verkaufspersonal war völlig erschöpft von den vielen Überstunden, die vor Weihachten immer anfielen und den Belastungen durch die grantigen Kunden.


„Hoffentlich schaffe ich den Zug noch, sonst muss ich eine Stunde warten“, meinte Lea nach dem gefühlt hundertsten Blick auf die Armbanduhr. Sie freute sich wie ein kleines Kind, endlich ein paar Tage bei ihren Eltern und Geschwister in Schwerin zu verbringen.
„Natürlich bekommst du ihn. Zieh dir schon mal die Schuhe an und hol dir deine Tasche von hinten, die kannst du unter die Kasse legen, das fällt der Chefin nicht auf“, meinte Marion beruhigend.
Ihre Abteilungsleiterin musste nichts davon wissen, sie war momentan mit einem Kollegen aus der Nachbarabteilung beschäftigt, das würde sie aber nicht abhalten, pünktlich Feierabend zu machen. Frau Bartsch tauchte nämlich auch immer rechtzeitig ab, wenn sie etwas Wichtiges vorhatte, und überließ es Marion, als ihre Vertreterin nach dem Rechten zu sehen.
„Puh, ich bin froh, wenn die Kinder heute Abend ihre Geschenke haben und ich meine Füße hochlegen kann. Ich schlafe immer gleich nach der Bescherung auf dem Sofa ein“, klagte Annika. Ihre Kinder gingen in die Grundschule und sie kämpfte jeden Tag, rechtzeitig nach Hause zu kommen, bevor die Kleinen vor verschlossener Tür standen.
„Ich bin auch abgekämpft, dabei muss ich mich daheim um niemanden kümmern“, meinte Marion und grinste ihre Kolleginnen an.
Seit einer Stunde ließ sich kein Kunde mehr bei ihnen blicken. Sicher besorgten sie jetzt die letzten Lebensmittel. Die drei Verkäuferinnen hatten die Zeit genutzt und ihre Abteilung aufgeräumt, sogar die Kasse hatten sie schon abgerechnet, um pünktlich aus dem Haus zu kommen.
Marion freute sich auf einen ruhigen Abend, an dem sie endlich die Füße hochlegen und sich einen Film anschauen konnte. Ihre Mutter würde sie erst am ersten Weihnachtstag in Pflegeheim besuchen. Sie war so dement, dass ihr Weihnachten nichts mehr bedeutete.
„Bist du nicht einsam?“, fragt Lea mitleidig.
Marion schüttelte den Kopf. „Früher schon, jetzt bin ich einfach nur froh, meine Ruhe zu haben.“ Sie dachte an ihre Zeit mit Jens zurück, er hatte immer erwartet, dass sie, obwohl sie so erschöpft war, noch die Gastgeberin für seine und ihre Eltern spielte. Die ersten Jahre hatte sie es bereitwillig gemacht, so verliebt wie sie war, doch später war sie nach den Feiertagen gestresster zur Arbeit gegangen als vor Weihnachten.
Gerade als sie sich ihre Taschen greifen wollten, tauchte ein Mann in ihrer Abteilung auf. Er blickte sich suchend um und grabbelte in den ordentlich zusammengelegten Pullis herum.
„Oh nein, braucht der wirklich jetzt noch ein Geschenk?“, stöhnte Annika.
Marion lief schon zu ihm. „Kann ich Ihnen helfen? Was suchen Sie?“
„Ich weiß nicht, ich brauche etwas, etwas was gut aussieht“, stotterte der Mann.
Marion unterdrückte ein Seufzen, dann sagte sie: „Einen Augenblick, ich bin gleich wieder bei Ihnen.“ Schnell lief sie die paar Schritte zu Annika und Lea zurück. „Ihr könnt nach Hause gehen, dass mache ich schon. Ich wünsche euch schöne Weihnachten. Erholt euch gut.“
Sie musste grinsen, als sie die erleichterten Gesichter ihrer Kolleginnen sah. Dann drehte sie sich nach dem verzweifelten Mann um.
„Ich brauche ein Geschenk für meine Mutter, sie ist überraschend aus Teneriffa gekommen und bei meiner Schwester eingefallen, um mit uns Weihnachten zu feiern. Meine Schwester organisiert schnell einen Braten und ich kann sie nicht im Stich lassen. Deshalb muss ich ein Geschenk besorgen, nur Blumen sind zu wenig.“
„Hätten Sie Ihr denn nichts per Post geschickt?“, fragte Marion neugierig. Der Mann erschien ihr gar nicht mehr so unsympathisch wie im ersten Augenblick.
„Tja, das Buch, das ich ihr geschickt habe, dürfte wahrscheinlich bei ihrer Nachbarin in Teneriffa liegen.“
Marion lachte. „Und jetzt wollen Sie einen Pulli kaufen?“
„Hm, sie war jahrelang nicht mehr im Winter in Deutschland. Ihre Winterpullover dürften nicht mehr der neusten Mode entsprechen.“
Also schleuste Marion ihn zum Tisch mit den dicken Pullovern. Er griff sofort zu einem orangefarbenen Wollpullover.
„Ist das die richtige Farbe?“, wagte Marion zu fragen.
Er nickte. „Sie trägt immer so scheußliche Sachen.“
Jetzt musste Marion laut lachen und kramte ein paar andere Pullover mit einer intensiven Farbe heraus. Zum Schluss kaufte der Mann den orangefarbenen Pullover und dazu eine giftgrüne Weste.
„Sind Sie sicher, dass das das Richtige ist?“, fragte Marion besorgt.
„Sie kann uns auf jeden Fall keinen Vorwurf machen, dass wir nicht an sie gedacht haben.“ Er grinste sie an.
Erleichtert kassierte Marion, aber eigentlich war die viertel Stunde, die sie jetzt länger im Laden stand, gar nicht so schlimm gewesen. Frau Bartsch hatte ihr von Ferne zugewunken und war verschwunden. Immerhin war Marion sich sicher, dass sie unten am Ausgang Bescheid gegeben hatte, dass sich noch ein Kunde und eine Mitarbeiterin im Laden befanden.
„Es tut mir leid, dass ich Sie jetzt von ihrem wohlverdienten Feierabend abgehalten habe“, entschuldigte sich der Mann, als er seine Bankkarte hervorzog. „Sicher wartet Ihre Familie auf Sie.“
„Nein“, Marion schüttelte ihren Kopf. „Nein, ich bin allein. Ich freue mich auf einen Abend mit einem guten Film und gehe dann früh ins Bett.“
„Und die nächsten Tage?“, fragte der Mann geschockt.
Trotz seines leichten Übergewichts sah er sehr attraktiv aus. Früher war er mit dem hübschen symmetrischen Gesicht, den vollen dunklen Haaren und seiner offenen Art sicher ein Herzensbrecher gewesen.
Marion zuckte die Achseln. „Morgen besuche ich meine Mutter im Pflegeheim, vielleicht auch übermorgen. Ansonsten genieße ich es, einmal nichts tun zu müssen, spazieren zu gehen, zu lesen, Filme zu schauen.“
„Haben Sie Lust, sich übermorgen mit mir zu treffen? Wir können zusammen in den Zoo gehen oder einfach nur an der Ostsee einen Spaziergang machen und Kaffee trinken“, schlug er vor und lächelte sie gewinnend an.
Marion war überrascht. „Warum nicht? Ja, gern“, sie strahlte ihn an. Ihr machte es zwar nichts aus, allein zu sein, denn ihre Freunde waren Weihnachten alle mit ihren Familien beschäftigt, doch vielleicht ergab sich etwas mit diesem sympathischen Mann.

Zwei Tage später holte Detlev sie mit seinem BMW ab, um zur Ostsee zu fahren.
„Wie sind denn der Pulli und die Weste angekommen?“, fragte sie gleich beim Einsteigen ins Auto neugierig.
„Hervorragend, vor allem bei meiner Schwester. Sie meinte, diese Scheußlichkeiten wären die richtige Strafe für den Überfall.“
„Wie alt ist deine Mutter denn?“ Marion schätzte Detlev auf Ende vierzig, also etwas älter ein, als sie selbst war, Aber sie war sich nicht sicher.
„Mitte siebzig, aber sie ist sehr rüstig und sehr eigen. Wir sind froh, dass sie sich für Teneriffa entschieden hat und uns dadurch nicht ständig herumkommandiert. Meinen Vater hat sie schon vor dreißig Jahren abserviert. Er hat sich dann schnell mit einer jüngeren Frau getröstet, während der Bekannte meiner Mutter nach kurzem Zusammenleben das Weite gesucht hat. Leider ist mein Vater vor zehn Jahren gestorben.“
Später unterhielten sie sich über Reisen nach Spanien und in die Türkei. Weiter war Marion nicht gekommen, aber Detlev kannte anscheinend die ganze Welt. „Ja, das hat mich von einer Familie abgehalten. Ich bin halt zu gern unterwegs und das haben meine Partnerschaften nie lange überlebt.“
„Was machst du denn beruflich?“
„Ich bin Medienberater und reise viel, vor allem nach Osteuropa.“
„Wie spannend, ich würde gern mehr von der Welt kennenlernen“, meinte Marion. Sie hatte viel zu wenig Urlaubstage, um oft unterwegs zu sein.
Am Timmendorfer Strand angekommen, war es eisig, aber die Sonne schien auf den Schnee und die Promenade war mit Spaziergängern gut gefüllt. Sie fanden, als ihnen kalt wurde, ein nettes Café und wärmten sich dort mit einer heißen Schokolade auf.
Am Abend setzte Detlev sie vor ihrer Haustür ab. Sie verabredeten sich für das nächste Wochenende zu einem Kinobesuch. Sanft küsste er sie zum Abschied. „Ich freue mich auf Samstag“, sagte er und strich ihr die Haare aus dem Gesicht.
„Ich auch“, hauchte Marion. Eigentlich war sie mit dem Thema Partnerschaft durch gewesen, doch jetzt musste sie es sich gründlich überlegen. Sie hatte nicht erwartet, sich in ihrem Alter noch einmal zu verlieben.


 Eva Joachimsen liebt lesen, schreiben und tanzen. Seit vielen Jahren veröffentlicht sie Kurzgeschichten in Zeitschriften und Büchern. Mehr von ihr erfährt man auf ihrem Blog. Ein Überblick über ihre Bücher gibt es bei Amazon und Thalia.