„Kannst du mich nicht verstehen,
Yvonne?“
„Kannst du mich nicht verstehen?“
Wieder einmal ging Yvonne ihr letztes
Streitgespräch mit Michael durch den Kopf. Es war ein Wortwechsel gewesen, wie
sie ihn oft geführt hatten.
„Dass du nicht bis in alle Ewigkeit zu
Hause sitzen willst, ist nachvollziehbar“, hatte ihr Mann eingeräumt. „Aber es
muss doch nicht sofort sein!“
„Michael, ich bitte dich! Ich bin Ende
dreißig. Wenn ich jetzt nicht zur Zeitung zurückgehe, wird das nie mehr
was.“
„Ich finde, die Jungs sind noch zu
klein ...“
„Zu klein? Sie gehen beide zur Schule.
Und die hat gerade auf Ganztagsbetrieb umgestellt. Die zwei sind erst gegen fünf
zurück.“
„Das reicht nicht. Als Reporterin
weißt du nie, wann du nach Hause kommst.“
„Lukas und Jonas könnten nach der
Schule zu deiner Mutter gehen. Die hätte bestimmt nichts dagegen.“
„Na hör mal!“ In solchen Momenten
konnten Michaels Augen richtig zornig blitzen. „Wir haben schließlich keine
Kinder bekommen, um sie dauernd anderen Leuten zu überlassen!“
Jaja, dieses Argument kannte sie zur
Genüge. „Du hast gut reden! Morgens gehst du in deine Firma und kommst erst
abends zurück. Du bist sowieso nur ein Feierabend- und Wochenend-Vater. Aber von
mir verlangst du, Ganztags-Mutter zu sein, sieben Tage die Woche, 365 Tage im
Jahr.“
Michael holte ein paar Mal tief Luft,
dann schwand der Unmut aus seinem Gesicht. „Da hast du nicht ganz Unrecht“, gab
er zu.
„Mit anderen Worten: Du bist
einverstanden?“
„Komm mal her, du“, sagte er leise. Er
zog sie an sich, küsste ihr Ohrläppchen. „Weißt du nicht mehr, was wir uns am
Anfang vorgenommen haben?“
Plötzlich schossen ihr Tränen in die
Augen.
Erschrocken hielt Michael sie ein
Stück von sich weg. „Was hast du, Yvi?“
„Nichts, gar nichts“, schniefte sie
und machte sich von ihm los. „Ich dachte bloß: Als wir früher von einem Stall
voll Kindern träumten, hatten wir noch keine Ahnung, was das bedeutet. Aber
heute, nach all unseren Erfahrungen, musst selbst du einsehen, dass zwei Kinder
genug sind.“
Es war wirklich nicht einfach gewesen
mit den beiden, trotz aller Freude, die sie ihnen auch gemacht
hatten.
Da war der sechsjährige Jonas – blass,
appetitlos, häufig krank. Mit Schrecken dachte Yvonne an die Nacht zurück, in
der sie mit Höchstgeschwindigkeit zur Kinderklinik gerast waren, weil er seinen
ersten Kruppanfall hatte. Danach hatten sie so manche Nacht wach gelegen und
beunruhigt auf die Geräusche aus dem Kinderzimmer gelauscht. Bellender Husten?
Pfeifende Atemgeräusche? Zwar schwand mit zunehmendem Alter diese Gefahr, doch
Jonas‘ schwächliche Konstitution blieb.
Sein achtjähriger Bruder Lukas war das
genaue Gegenteil: stämmig, robust, auch im Umgang mit anderen. Bereits im
Kindergarten hatte er sich häufig mit anderen geprügelt, und in der Schule
schüttelten die Lehrerinnen hin und wieder sorgenvoll die Köpfe über sein
aggressives Verhalten. Auch konnte er nicht gut zuhören und keine Minute still
sitzen.
Michael belasteten solche Dinge
natürlich genauso wie sie. „Trotzdem“, sagte er, „ich hätte zu gern noch eine
Tochter ... So ein süßes, kleines Mädchen, das würde unsere Familie komplett
machen.“
„Michael! Wir haben keinen Einfluss
darauf, ob es ein Mädchen wird!“
Er setzte sein jungenhaftes Grinsen
auf, das sie so sehr mochte. „Wir könnten es zumindest versuchen.“
„Kommt nicht in Frage! Ich will
keinesfalls noch mal von vorn anfangen mit Windeln, Fläschchen, Babygeschrei und
schlaflosen Nächten. Und der Gedanke an eine Schwangerschaft erfüllt mich mit
Grausen: die Übelkeit in den ersten Monaten, diese Dünnhäutigkeit und ewige
Heulerei wegen nichts und wieder nichts, die Beschwerlichkeit am Ende
...“
„Lass uns ein anderes Mal
weiterreden.“ Das war ein typischer Satz, den Michael gern verwendete, wenn es
Unstimmigkeiten gab. Auf diese Weise hatte er auch versucht, ihre letzte
Auseinandersetzung zu beenden.
Aber Yvonnes Entschluss stand fest.
„Du kannst darüber reden, bis du schwarz wirst“, entgegnete sie. „An meiner
Einstellung ändert das nichts.“
Wenn sie jetzt darüber nachdachte, kam
es ihr so vor, als ob die Wortgefechte von Mal zu Mal erbitterter geworden
wären. Yvonnes anfängliche Gereiztheit hatte sich zu dumpfem Groll gesteigert,
dann zu Ärger und schließlich zu rotglühender Wut. „Du denkst nur an dich!“,
hatte sie ihn bei ihrem letzten Streit angeschrien. „Ich soll zu Hause
versauern, ein Kind nach dem andern kriegen und dich bedienen, während du dir
einen schönen Lenz machst. Ohne mich! Wir leben schließlich nicht mehr im 19.
Jahrhundert!“
Traurig schaute er sie an. „Ich wusste
gar nicht, dass du so über mich denkst.“
„Das tue ich auch nicht“, hätte sie
sofort klarstellen müssen, denn in diesem Punkt hatte sie ihm bitter Unrecht
getan. Michael führte sich nie wie ein Macho auf, sondern er unterstützte sie,
wo er nur konnte, und kümmerte sich liebevoll um seine Söhne, trotz der
anstrengenden beruflichen Tätigkeit in seiner Firma, wo er eine Führungsposition
innehatte. „Du bist ein guter Ehemann und Vater.“ Das hätte sie sagen sollen.
Stattdessen hatte sie geschwiegen, stumm in ihrem Zorn. Oh, wie sehr bereute sie
nun, dass sie ihn derart gekränkt hatte!
In den darauffolgenden Tagen hatten
Michael und sie dieses Thema gemieden, zum einen, weil eine Einigung vorerst
unmöglich schien, und zum anderen, weil die Adventszeit begann und sie keine
schlechte Stimmung verbreiten wollten. Yvonne war dankbar für diese Atempause,
die es ihr erlaubte, ihre Zukunft erneut in aller Ruhe zu überdenken.
„Ach, warum habe ich ihm nicht gesagt,
dass es mir leidtut?“, fragte sie sich nun zum soundsovielten Male. „Ich hätte
noch einige Tage Zeit dazu gehabt.“ Aber sie war zu stolz gewesen – nein, zu
verbohrt.
Das Klingeln an der Haustür ließ sie
hochschrecken. Viertel vor fünf, die Kinder kamen nach Hause. Sie ging in den
Flur, um sie zu empfangen.
„Mama!“, schrie der Kleine und warf
seinen Tornister unter die Garderobe. „Wir haben heute ein Weihnachtslied
gelernt. Er stand kerzengerade, warf den Kopf nach hinten und sang aus voller
Kehle:
„Morgen, Kinder, wi-hird‘s wa-has
geben,
morge-hen werden wir uns
freu‘n!
Welch ein Jubel, welch ein
Leben
wird i-hin unsrem Hause
sein!
Einmal werden wir noch
wach,
heißa, dann ist
Wa-hei-na-hachts-tag!“
„Quatsch!“, brüllte Lukas dazwischen.
„Wir werden noch zweimal wach, du Depp.“
„Jubel, Freude, Leben“, dachte Yvonne
bitter. „Davon werde ich wohl kaum etwas verspüren. Das Einzige, worauf ich
hoffen kann, ist, dass die Kinder es nicht so sehr merken.“
Jonas ließ sich durch den Einwand
seines Bruders nicht beirren. Lauthals sang er weiter:
„Wie wird dann die Stu-hu-be-he
glänzen
von de-her großen
Lichterzahl,
schöner als bei fro-ho-hohen
Tänzen
ein ge-he-putzter
Kronensaal.
Wisst ihr noch wie vor‘ges
Jahr,
es am Weihnachtsa-ha-be-hend
war?“
Oh ja, Yvonne erinnerte sich noch
genau, wie es voriges Jahr am Weihnachtsabend war. Lächelnd hatten Michael und
sie zugeschaut, wie die Kinder ihre Geschenke auspackten. Michael hatte den Arm
um sie gelegt und sie umschlang seine Hüfte und legte den Kopf an seine
Schulter. Nicht im Traum hätte sie gedacht, dass es ihr letztes gemeinsames
Weihnachtsfest war.
„Welch ein schöner Ta-hag i-hist
morgen!
Neue-he Freude hoffen wir;
unsre lieben E-hel-te-hern
sorgen
lange, lange schon dafür
...“
Der Gesang brach ab.
Yvonne kamen die Tränen. Hastig wandte
sie sich ab. In Zukunft würde sie ganz allein dastehen und sorgen müssen, nicht
nur für Geschenke – für alles. Diese Vorstellung erfüllte sie mit
Verzagtheit.
„Warum hörst du auf zu singen?“,
wollte Lukas wissen.
„Ich habe vergessen, wie es
weitergeht“, antwortete sein Bruder betreten.
„Bist du blöd!“, schrie Lukas.
„Außerdem singst du falsch.“
„Stimmt ja gar nicht! Außerdem weißt
du genauso wenig, wie es weitergeht.“
„Ich brauche das auch nicht zu wissen.
Ich habe das Lied nicht heute gelernt.“
Yvonne räusperte sich. „Zankt euch
nicht“, mahnte sie. „Geht rauf in eure Zimmer. Ich rufe euch, wenn das Essen
fertig ist.“
In der Küche ließ sie ihren Tränen
freien Lauf. Ihr graute so sehr vor dem Fest! Was gäbe sie darum, wenn sie
Weihnachten dieses Jahr ausfallen lassen könnte!
„Das dürfen Sie nicht“, hatte ihr Arzt
gesagt, mit dem sie darüber gesprochen hatte. „Für die Jungen muss möglichst
alles so weitergehen wie bisher.“
Daraufhin hatte Yvonne schweren
Herzens einen Tannenbaum gekauft, der nun auf dem Balkon stand und darauf
wartete, geschmückt zu werden. „Wie soll ich das bloß überstehen?“, fragte sie
sich. Den Baum hatten Michael und sie sonst am Vorabend gemeinsam geschmückt.
Sie tranken ein Glas Rotwein dabei, hörten Weihnachtsmusik und freuten sich auf
das Familienfest. Ein flüchtiges Lächeln huschte über Yvonnes Gesicht, als sie
daran dachte, dass Michael immer darauf bestanden hatte, die Kugeln allein
aufzuhängen. „Ein Einzelner kann sie besser gleichmäßig verteilen“, behauptete
er. Natürlich war das nur ein Vorwand. Michael pflegte nämlich sein Geschenk für
sie unter den Kugeln zu verstecken.
Geschenke für die Kinder kauften sie
traditionsgemäß am ersten Adventssamstag. Auch in diesem Jahr hatten sie das
noch getan.
Michael hielt viel von
Familientraditionen. An Heiligabend zum Beispiel gab es Nudelsalat mit reichlich
Fleischwurst. Das war schon in seinem Elternhaus so gewesen. Yvonne hatte kurz
überlegt, ob sie zu diesem Fest etwas anderes vorsehen sollte – und erstand am
Ende wieder Fleischwurst. „Es muss möglichst alles weitergehen wie bisher“,
klangen ihr die Worte des Arztes im Ohr.
„Du, Mama“, fragte Jonas beim
Mittagessen, „wieso heißt es in dem Lied eigentlich: ‚Unsere guten Eltern sorgen
lange, lange schon dafür‘? Wo doch das Christkind die Geschenke
bringt?“
Ehe Yvonne antworten konnte, ergriff
Lukas das Wort. „Glaubst du etwa noch ans Christkind?“
„Ja, sicher!“
„Lass gut sein, Lukas“, sagte Yvonne
leise, aber der ließ sich nicht bremsen: „Nur Babys glauben ans
Christkind.“
„Spinnst du?“, rief Jonas aufgebracht.
„Pass bloß auf! Wenn das Christkind dich hört, bringt es dir zur Strafe keine
Geschenke.“
„Die Eltern kaufen die Geschenke. Das
weiß doch jeder!“
Jonas‘ Antwort traf Yvonne wie ein
Fausthieb in die Magengrube. „Papa besorgt garantiert keine Geschenke für uns“,
rief er. „Also muss es das Christkind sein.“
„Das ist überhaupt kein Beweis!“,
ereiferte sich Lukas. „Bei uns besorgt eben Mama die Sachen. Oder kriegen wir
übermorgen keine Weihnachtsgeschenke, Mama?“
Yvonne versuchte, geheimnisvoll
auszusehen. „Wer weiß, wer weiß“, antwortete sie, „warten wir es ab. Eure
Wunschzettel habe ich jedenfalls weitergegeben.“ Dabei zwinkerte sie ihrem
Ältesten heimlich zu.
„Siehste?“, rief sein kleiner Bruder
triumphierend.
„Pff“, machte Lukas.
Yvonne nahm alle Kraft zusammen.
„Schluss jetzt!“, verlangte sie energisch. „Wenn ihr nicht sofort mit der
Streiterei aufhört, gibt es Heiligabend tatsächlich keine Geschenke.“
Nach dem Essen hatte sie urplötzlich
Lust auf heißes Zitronenwasser mit ganz viel Zucker. Während sie es in kleinen
Schlucken trank, blätterte sie im Lokalteil ihrer Zeitung.
Es war noch gar nicht lange her, dass
sie der Redaktion einen Besuch abgestattet hatte. „Um mal vorzufühlen“, schrieb
sie auf den Zettel, den sie Michael hinlegte, damit er wusste, wo sie war, falls
er vor ihr zu Hause sein sollte. Er hatte nämlich angerufen und gesagt, dass er
wahrscheinlich früher kommen würde, weil er sich nicht wohlfühlte. Ob er ihre
Nachricht noch gelesen hatte? Das fragte sie sich oft.
Beschwingt eilte sie nach der
Stippvisite bei der Zeitung durch die Straßen. Es war herrlich gewesen, ihre
alte Wirkungsstätte wiederzusehen! Die meisten der ehemaligen Kollegen waren
noch da und sie hatte sich sofort dazugehörig gefühlt, fast wie in alten Zeiten.
Und – was das Schönste war – der Chef hatte ihr Hoffnungen gemacht, dass sie im
Frühjahr an ihren Arbeitsplatz zurückkehren könnte, weil eine Kollegin ein Baby
erwartete und plante, in Elternzeit zu gehen.
„Wie gut“,
dachte sie auf dem Heimweg, „dass ich den Termin schon vereinbart habe! Jetzt
brauche ich nur noch Michael davon zu überzeugen, dass dies ein Wink des
Schicksals ist. Eine Chance, die ich mir nicht entgehen lassen darf.“ Gleich am
Abend, sobald die Kinder im Bett waren, wollte sie das Gespräch darauf bringen.
Durch den Zettel war er ja bestens darauf vorbereitet.
Wie sehr wünschte sie sich jetzt, sie
hätte an jenem Nachmittag das Haus nicht verlassen. Vielleicht wäre dann alles
anders gekommen ...
Sie schloss die Haustür auf. Die
Jungen waren noch bei der Schwiegermutter. Der Zettel, den sie Michael
hinterlassen hatte, lag auf dem Flurtischchen, darauf der Wagenschlüssel, und
sein Mantel hing an der Garderobe. In der Wohnung war es totenstill. Yvonne
runzelte die Stirn. „Michael?“, rief sie.
Keine Antwort.
„Michael, wo bist du?“ Sie schaute ins
Wohnzimmer, in die Küche, ins Schlafzimmer.
Niemand zu sehen.
Die Badezimmertür stand eine Handbreit
auf und sie ließ sich nur mühsam weiter öffnen. Yvonne drückte mit aller Macht
dagegen und steckte den Kopf durch den Spalt. Michael lag hinter der Tür auf dem
Boden. Er war wachsbleich, sein Gesicht erschien ihr völlig fremd.
Yvonne begriff sofort, dass es um
Leben um Tod ging. Sie rief den Notarzt, quetschte sich durch die enge Ritze,
fiel neben Michael auf die Knie, begann mit der Herzdruckmassage und spendete
ihm ihren Atem. Sie handelte nicht, sie funktionierte. Wie ein Automat, ohne
nachzudenken, damit die entsetzliche Angst, die in ihr hochkroch und ihr Herz
schon fast erreicht hatte, nicht bis in ihren Kopf vordringen konnte.
Der Notarzt kam und stellte Michaels
Tod fest. „Aber er ... er war doch ... ganz gesund“, stammelte sie.
„Sein Herz war nicht mehr so, wie es
sein sollte“, erklärte man ihr nach der Obduktion.
„Aber er hat niemals über Beschwerden
geklagt“, widersprach Yvonne lebhaft, als ob sie den Doktor davon überzeugen
wollte, dass Michael nicht tot war. Nicht tot sein konnte, weil er bestimmt
nicht an einem Herzinfarkt gestorben war.
Der Mediziner wiegte den Kopf.
„Vielleicht hat er tatsächlich nichts gespürt. Oder aber Ihr Mann wollte seine
Beschwerden nicht wahrhaben. Sein Cholesterinspiegel war stark erhöht, und
wahrscheinlich hatte er auch einen zu hohen Blutdruck.“
Yvonne zuckte die Achseln. „Ich weiß
nicht. Er ging nie zum Arzt.“
Der Doktor warf ihr einen Blick zu,
als wollte er sagen: „Sehen Sie? Das kommt davon!“
Eine letzte Frage musste Yvonne ihm
noch stellen: „Wenn ich etwas anders gemacht hätte, wäre er dann zu retten
gewesen?“
Der Arzt legte ihr seine Hand auf die
Schulter. „Ihr Mann war mit Sicherheit schon tot, als Sie ihn gefunden
haben.“
„Und wenn ich eher versucht hätte, ihn
wiederzubeleben?“
„Sein Herz war sehr schwer geschädigt.
Es ist besser für ihn, dass er gestorben ist.“
Yvonne nickte. Erleichtert fühlte sie
sich dennoch nicht. Was sie eigentlich wissen wollte, konnte der Arzt ihr nicht
sagen: Hatte sie zu Michaels Tod beigetragen, weil er sich in der letzten Zeit
zu oft und zu sehr aufgeregt hatte? Zum Beispiel über eine Nachricht auf dem
Flurtischchen?
Sie quälte sich durch die ersten Tage,
die Beerdigung, die Formalitäten. Beinahe ungläubig blickte sie auf ihr Leben
beziehungsweise auf das, was davon übrig geblieben war. Geldsorgen würde sie
keine haben, doch das tröstete sie nicht. In ihrer Brust wütete ein
unerträglicher, brennender Schmerz, in ihrem Kopf herrschte undurchdringliche
Wirrnis. Nur eine dünne äußere Schale verhinderte, dass sie in sich
zusammenschmolz, und diese starre Hülse durfte auf gar keinen Fall Risse
bekommen – der Kinder wegen. Yvonne räumte die Alltagsgegenstände fort, die
Michael gehört hatten, und bezog die Betten frisch. Dann wandte sie sich
Weihnachten zu.
Nicht ein Mal dachte sie in dieser
Zeit darüber nach, ob sie in ihren Beruf zurückkehren sollte. Was sie überhaupt
tun sollte. Sie ließ keine Fragen an sich heran. Es war nicht die Zeit für
Entscheidungen.
Am Abend vor dem Fest machte sich
Yvonne daran, den Baum zu schmücken. Sie schleppte ihn ins Wohnzimmer und
wuchtete ihn in den Ständer. Dann holte sie die Kisten und Kästen mit den
Weihnachtssachen aus dem Keller. Während sie die Kerzen auf die Zweige steckte,
weinte sie so heftig, dass sie vor lauter Tränen kaum etwas sah. Nein, sie
musste unterbrechen. Sie würde den Baum später weiterschmücken, wenn sie sich –
hoffentlich – ein wenig gefasst hatte.
Sie schaute in die Zimmer ihrer Söhne.
Jonas schlief tief und fest, obwohl er vorher mehrfach verkündet hatte, er würde
bestimmt wach bleiben. „Weil Weihnachten ist und das Christkind kommt!“ Der
Kleine hatte sich erstaunlich gut in die Situation eingefunden, und dafür war
Yvonne dankbar.
Lukas lag mit offenen Augen im Bett.
„Hast du gerade geheult?“, fragte
er.
„Mm.“
„Ich auch.“ Er drehte sich zur
Wand.
Yvonne neigte sich über ihn und küsste
seine feuchte Wange.
„Ich möchte eigentlich gar nicht
Weihnachten feiern“, presste Lukas heiser hervor.
„Das würde Papa nicht wollen“,
flüsterte sie und strich ihm übers Haar. „Und du wirst sehen, mein Großer: Wir
schaffen das. Du hilfst mir, ich helfe dir, und wir beide passen auf, dass Jonas
nicht traurig wird.“
Er schlang seine Arme um ihren Hals.
„Okay“, murmelte er.
Sie verharrten eine Weile in der
Umarmung.
„Glaubst du, Papa kann uns sehen?“,
fragte Lukas.
„Ich weiß es nicht.
Vielleicht.“
„Das wäre schön.“
„Ja.“ Sie gab ihm noch einen Kuss.
„Und jetzt versuche zu schlafen.“
Yvonne schloss leise die Tür zum
Zimmer ihres Sohnes, aber sie fühlte sich immer noch nicht in der Lage, den
Tannenbaum zu schmücken. Sie beschloss, zunächst den Nudelsalat zuzubereiten –
wie Michael ihn gerne aß, mit Gurken und viel Fleischwurst. Aber diesmal
brauchte sie nur eine kleine Schüssel, denn er war ja nicht mehr da mit seinem
Riesenappetit. Bevor sie den Salat in den Kühlschrank stellte, wollte sie ihn
abschmecken, aber ein jäher Widerwille machte es ihr unmöglich, auch nur einen
einzigen Bissen davon zu nehmen.
Als die Küche aufgeräumt war, gab es
kein Zurück mehr. Yvonne zwang sich, ins Wohnzimmer zu gehen. Als Nächstes
musste sie die Kugeln an die Zweige hängen, und davor fürchtete sie sich am
meisten.
Mit bebenden Fingern öffnete sie den
ersten Karton. Er enthielt rote und goldene Kugeln, der zweite grüne und blaue.
Und dann gab es noch einen mit Kugeln in verschiedenen Farben: rosa, silbern,
violett. Michael und sie hatten die Tanne immer kunterbunt geschmückt. „Das ist
der schönste Baum, den wir je hatten“, meinte Michael jedes Jahr, wenn sie
fertig waren und ihr Werk betrachteten.
Yvonne verteilte die Kugeln aus dem
ersten und zweiten Karton einigermaßen gleichmäßig in den Zweigen. Als sie den
Deckel des dritten Kartons abhob, stutzte sie. Heiße Tränen stiegen ihr in die
Augen. Da lag ein Päckchen, in Weihnachtspapier eingeschlagen und mit einer
großen, roten Schleife. Es hatte ungefähr die Größe eines Taschenbuchs, aber es
war härter und flacher. Michaels Geschenk für sie. Damit hatte sie nicht
gerechnet! Dass er noch genug Zeit gehabt hatte, etwas für sie zu besorgen,
bevor er ...
Sie biss die Zähne zusammen. Ihre Knie
zitterten, sie musste sich setzen. Sollte sie das Geschenk gleich auspacken oder
erst morgen? Nein, sofort. Sie wollte es tun, ohne dass die Kinder dabei
waren.
Yvonne straffte die Schultern.
Behutsam löste sie das rote Band und zog das Papier ab. Ein schwarzes Gehäuse
mit einem Bildschirm kam zum Vorschein. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie,
was es war: ein Tablet PC! Michael hatte ein Geschenkkärtchen daran befestigt:
„Für die künftige Starreporterin unserer Lokalzeitung“ stand in seiner
großzügigen Handschrift darauf.
„Oh, Michael!“ Ein Stöhnen drang
zwischen ihren Lippen hervor. Sie presste das Gerät an ihre Brust. Ein seltsames
Gefühl des Trostes ging von dem harten, kalten Gegenstand aus. Es dauerte eine
Weile, bis Yvonne begriff, warum: weil sie nun wusste, dass Michael ihren Wunsch
akzeptiert hatte. Er war ihr nicht böse gewesen. Sie waren nicht im Streit
auseinandergegangen. Er hatte sie geliebt und deshalb ihre Wünsche über seine
gestellt.
„Ich danke dir, mein Liebster“,
flüsterte sie in den stillen Raum hinein. „Doch es wird anders kommen, als du
gedacht hast. Ich weiß es schon seit ein paar Wochen. Erst hatte ich viele
Zweifel, aber jetzt bin ich mir ganz sicher: Ich sage den Termin ab. Ich will
unser drittes Kind zur Welt bringen.“ Ein schwaches Lächeln zuckte um ihre
Mundwinkel. „Vielleicht wird es ja ein Mädchen.“
Copyright Eva Markert Mehr über die Autorin: http://www.amazon.de/-/e/B003QA9D4K |
Eine Sammlung weihnachtlicher Kurzgeschichten und Leseproben aus E-Books und gedruckten Büchern verschiedener Autoren
Samstag, 15. Dezember 2012
Unsre lieben Eltern sorgen ... von Eva Markert
Labels: Weihnachten, Weihnachtsgeschichten,
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