„Ich geh mit meiner Laterne und
meine Laterne mit mir, da oben funkeln die Sterne und ich leuchte dir!“, sang
Ferdinand, der Laternenträger, hinein in die Stille der Nacht. Der eisige Boden
knirschte unter seinen dickgefütterten, grünen Stiefeln. Der Lichtschein, der
metallenen Laterne, ließ sanfte Strahlen auf die Tannenbäume fallen, die den
Wegrand säumten. Die Zweige ächzten unter der Last des Schnees. Ein leises
Rauschen zog durch den Wald. Ferdinand verspürte keine Kälte. Er trug eine rote
Mütze mit einem weißen Troddel am Zipfel, der sich im Takt seiner Schritte
bewegte. Ein grüner Schal, bestickt mit goldenen Streifen lag gebunden um
seinen Hals. Der weiße, durchgehende Schneeanzug bäumte sich über dem Bauch.
Die Finger in roten Handschuhen, schützend vor dem frostigen Wetter. Mit
aufrechtem Gang trug er die Laterne durch die finstere Nacht. Seine Nase war
vom eisigen Wind rot gefärbt. Ein Lächeln ruhte auf seinen Lippen und nachdem
er kurz in den Wald gelauscht hatte fing er erneut an sein Lied zu singen.
Plötzlich hörte er auf, blieb
stehen, hob die Laterne höher, um somit ein Stück weiter den Waldweg
auszuleuchten. Dort bewegte sich etwas in der Dunkelheit.
„Ist da wer?“, rief Ferdinand,
schaukelte dabei die Laterne hin und her. Der Schatten bewegte sich auf ihn zu,
bis er ganz in den Lichtschein fiel.
„Hast du mich erschreckt, ich
dachte es wäre ein
Wildschwein, das meinen Weg kreuzt“,
sagte Ferdinand erleichtert. „Wer bist du?“ Er sah sein Gegenüber genauer an.
Es war ein Junge, warm gekleidet und er trug einen Rucksack mit sich.
„Mario, ich heiße Mario.“
„Was treibt dich bei kühler Nacht
und baldigem erneuten Schneefall in den Wald?“ Ferdinand ging auf der Stelle
auf und ab. Er verspürte beim Stehen bleiben, dass die Kälte in seine Beine
zog.
„Meine Eltern haben mich
rausgeschickt.“
„Hast du Holz gesammelt?“
Ferdinand zeigte auf den Rucksack.
„Nein, im Sack ist alles, was ich
besitze.“ Mario senkte betroffen den Kopf.
„Soll das heißen, deine Eltern
haben dich nicht rausgeschickt, sondern
aus deinem Heim geworfen?“ Entsetzt stampfte Ferdinand mit dem Fuß auf. Zu oft
hatte er dieses, im Laufe seiner Leuchtwanderjahre erlebt. Die Laterne war ins
Schwanken geraten und die Kerze wäre dabei beinahe fast erloschen. Schnell
stellte Ferdinand das Gleichgewicht der Lichtquelle wieder her, legte eine Hand
als Schutz vor die Flamme, die sofort kräftig aufflackerte. „Puh, da habe ich
Glück gehabt. Das Licht darf nicht erlöschen!“ Langsam setzte er sich in
Bewegung. „Erzähl mir beim Weitergehen deine Geschichte. Es ist zu kalt, um
stehen zu bleiben.“ Mario schloss sich ihm an und versuchte Gleichschritt zu
halten. Ferdinand legte ein strammes Tempo an den Tag.
Der Junge verlagerte das Gepäck,
stopfte die Hände in die Jackentaschen und stiefelte neben Ferdinand her, der
anfing sein Lied zu singen. Er überlegte, was die Eltern veranlasst haben
könnte, ihren Jungen in die Nacht ziehen zu lassen. Es ließ ihm keine Ruhe.
„Wie alt bist du, Mario?“ Er sah zu ihm hinüber.
„Siebzehn, Herr ...“
„Ich heiße Ferdinand und bin der
Laternenmann.“
„Und wohin gehst du so?“
„Erkläre mir erst, warum du hier
im Wald bist und dann erzähle ich dir, wohin mich meine Schritte führen.“
„Meine Eltern sagen ich soll
endlich finden, wonach ich suche“, murmelte Mario.
Abrupt blieb Ferdinand stehen.
Seine Stirn war gekraust, die Augen glitzerten förmlich die Frage heraus, ohne,
dass er sie aussprach.
Mario verstand seine Mimik. „Ich
drücke es mal in ihren Worten aus: ständig aufsässig, immer anderer Meinung,
gegen den Strom schwimmend, nicht lernfähig, unordentlich und niemals annehmen,
was mir gesagt wird.“
Der Laternenmann nahm wieder
Schritt auf. „Ein total normaler Jugendlicher!“
„Nicht wirklich, behaupten meine
Eltern!“
„Das ist jetzt egal. Wenn du
magst, dann begleite mich und vielleicht findest du, wonach du suchst.“
Die Sterne funkelten und der Mond
strahlte als Halbsichel über ihnen. Kleine Schneeflocken fielen auf sie herab.
Mario schlug den Kragen hoch, zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht.
„Wohin gehen wir?“, fragte er in
die Dunkelheit der Nacht.
„Ins Land der Findlinge.“
Überrascht blieb Mario stehen.
„Ins Land der Findlinge?“, wiederholte er.
„Hast du schon einmal davon
gehört?“
Zum Antworten kam Mario nicht. Aus
dem Dickicht schritt eine Gestalt auf sie zu. Ein Herr bekleidet mit einem
aufwendigen bodenlangen Mantel. Auf seinem Kopf trug er einen Pelz. Seine Füße
steckten in mit Fell beschlagenen Stiefeln, die ihm bis zum Knie reichten.
Ein feiner und wahrscheinlich
reicher Herr, dachte Ferdinand und begrüßte ihn.
„Ich bin Ferdinand, der
Laternenmann, begleitet von Mario, der auf der Suche nach etwas Besonderem ist.
Und du?“
„Thorsten, Firmenchef,
siebenundvierzig, sozusagen in der Blüte meines Lebens.“
Ferdinand hörte die Ironie in
Thorstens Stimme. Beließ es aber erst einmal damit. „Was führt dich mitten in
der Nacht in den eisigen Wald?“
„Tagelang irrte ich umher. Man
sagte mir, du würdest diesen Pfad gehen, ins Land der Findlinge. Kann ich mich
euch anschließen“, sprach Thorsten. Ferdinand nickte ihm zu und setzte die
Wanderung fort.
(...)
©Sigrid
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