Renate stellte das Geschirr in
den Schrank, sie wischte den Küchentisch ab und machte das Licht aus. Es war 22
Uhr. Ihr Mann hatte sich schon schlafen gelegt. Er musste morgen früh raus.
Tagschicht. Sie ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Auf einem
Kanal lief ein Krimi, auf einem anderen redeten irgendwelche Typen über die
psychische Verwilderung der heutigen Jugend, ein dritter präsentierte einen
seichten Liebesfilm. Renate zappte sich durch die verschiedenen Programme.
Nichts zog sie an, keine Geschichte lockte sie, in das Geschehen einzutauchen.
Am Weihnachtsbaum brannten die künstlichen Lichter.
Der Heilige Abend war so verlaufen wie in all den
Jahren zuvor. Justus hatte ihr eine elektrische Kaffeemütze geschenkt, sehr
praktisch. Auch die Kartoffelschälmaschine konnte sie gut gebrauchen. Sie hatte ihm einen warmen Pullover
gestrickt. Den wollte er morgen gleich anziehen. Der Winter war kalt. Sie
hatten im warmen Zimmer zusammengesessen wie jedes Jahr zu Weihnachten.
Harmonisch, friedlich. Früher hatte sie davon geträumt, einmal nach
Griechenland zu fahren, Urlaub zu machen, die alten Stätten der europäischen
Kultur zu besuchen. Justus war mehr für die heimischen Berge. „Irgendwann
fahren wir hin“, hatte er sie immer vertröstet, jetzt sagte er es nicht mehr.
Renates Traum war mit den Jahren still geworden.
Justus schlief, sie spielte mit der Fernbedienung. Der
Krimi war zu Ende, der Liebesfilm lag in den letzten Zügen, ein Happy-End
zeichnete sich ab. Diskussionen, erhebende Worte zum Weihnachtsfest, Musik.
Renate klickte sich durch die Programme. Nichts zog sie an. Keine Geschichte
lockte.
Und dann tauchte die Akropolis auf. Athen, Hellas,
Sonne, Wärme. Renate lehnte sich im Sessel zurück und fühlte, wie die Bilder
nach ihr griffen, sie berührten, hineinzogen in die griechische Landschaft, auf
die ägäischen Inseln, an die ionischen Strände, auf den Peloponnes. .
Sie schritt durch Olivenhaine, saß auf sonnengewärmten
Steinen an der Akropolis, schlenderte durch das baumlose Epirus, ließ den
delphischen Zauber auf sich wirken, genoss das mediterrane milde Klima im Süden
der Insel, fuhr mit dem Schiff zu den ionischen und ägäischen Inseln, besuchte
Rhodos und Kreta, tauchte ein in die minoische Kultur, in die Welt der Antike
und ließ sich auffangen vom modernen Griechenland. Was sie bisher nur aus
Büchern kannte, erlebte sie jetzt hautnah. Sie saß draußen unter Laubbäumen mit
fröhlichen Menschen zusammen, sie trank griechischen Wein, lauschte
griechischer Musik, der griechischen Sprache. Ein junger Mann mit dunklen
Locken holte sie zum Tanz. Er schenkte ihr eine Hibiskusblüte. Man stellte eine
Schale mit Oliven vor sie hin, eine Flasche Wein. In der Nacht lag sie im Bett
und ihre Gedanken wanderten nach Hause, zu Justus. Und am nächsten Tag gab es
neue Erlebnisse, neue Bilder, neue Menschen. Auch in Griechenland war Winter,
auf den Bergspitzen lag Schnee, doch in den Niederungen herrschten milde
Temperaturen. Drei Wochen Urlaub in Griechenland. Ein Traum wurde wahr. Renate
wiegte sich zu den Klängen griechischer Musik. Sie kostete Demestica und
schwarze Oliven.
„Sag mal, warst du überhaupt nicht im Bett?“
Sie schreckte hoch. Eine Hibiscusblüte fiel auf den
Boden.
„Bist im Sessel eingeschlafen.“ Justus stellte den
Fernseher aus.
„Ich war in Griechenland“, sagte Renate.
„Dein alter Traum.“ Justus nahm sie in die Arme.
„Irgendwann fahren wir hin“, sagte er. Seit Jahren das erste Mal wieder.
„Möchtest du einen Kaffee?“
„Ne, parakaló“, sagte Renate.
„Wie?“
„Ne, parakaló“, wiederholte sie.
„Was redest du denn da? Hast du Fieber? Wäre ja kein
Wunder, die ganze Nacht hier im kalten Zimmer sitzen. Die Heizung schaltet sich
doch um 22 Uhr aus.“ Er legte seine Hand auf ihre Stirn. „Also, Fieber scheinst
du nicht zu haben.“
„Ja, bitte“, sagte Renate.
„Wie bitte?“
„Ne, parakaló -
ja, bitte. Ich möchte einen Kaffee.“ Sie stand auf, bückte sich, nahm
die Hibiskusblüte vom Teppich. Auf dem Tisch stand eine Schale mit schwarzen
Oliven. Daneben eine Flasche Demestica rot. Sie ging in die Küche und hatte das
Gefühl, durch Olivenhaine zu schreiten. „Ti óra ìne?“, fragte sie und fügte
hinzu: „Wie spät ist es?“
„Viertel vor Fünf.“ Justus stellte die Kaffeemaschine
an. Er setzte sich hin. Auf dem Tisch stand eine Schüssel mit griechischem
Bauernsalat. „Wann hast du den denn zubereitet?“, fragte er.
„I Choriátki – der Bauernsalat“, sagte Renate. „Ich
habe ihn aus Griechenland mitgebracht. Pinás? Hast du Hunger?“
„Nicht so sehr.“ Justus aß trotzdem eine große Portion
Salat.
„Pináo san ton liko, ich habe großen Hunger“, sagte
Renate und füllte ihren Teller. .
„Wo hast du Griechisch gelernt?“
„In Griechenland.“
Er lachte. „Das musst du mir genauer erklären. Heute
Abend, wenn ich von der Arbeit komme.
„Póte tha
epistrépsis sto spíti? Wann kommst du nach Hause?“
„Wie immer.“
Pünktlich wie immer kam er. „So, und jetzt erkläre mir
mal, was heute Nacht passiert ist“, sagte er.
„Ich war in Griechenland. Das sagte ich doch schon. Was
soll ich dazu erklären?“ Sie legte ihre Hand auf seine Hand. „Es ist ein
Wunder, ich weiß. Wunder kann man nicht erklären. Könnte man sie erklären, dann
wären es keine Wunder mehr.“
„Ja“, sagte er und holte seine Tasche aus dem Flur,
nahm einen Umschlag heraus und legte ihn auf den Tisch. „Da, noch ein
Weihnachtswunder, aber eines, was man erklären kann. Du hast mich überzeugt. Im
März fliegen wir zusammen nach Griechenland.“
„Efcharistó polí!“, sagte sie und drückte ihn. „Vielen
Dank!“
© Evelyn Sperber-Hummel