Der
Heiligabend mit seiner Bescherung ist ebenso vorbei wie der erste Feiertag, an
dem sich alle Familienmitglieder Jahr für Jahr im Restaurant „Beim fetten
Jakob“ zum Weihnachtsschmaus treffen.
Es ist
der 26. Dezember. Carlotta sitzt mit ihren Eltern im Wohnzimmer und betrachtet
den Tannenbaum in seinem weihnachtlichen Lichterschein. Der Baum reicht bei den
Eberts immer bis zur Decke und steht mitten im Raum. Und genau genommen sitzt
nur Carlotta. Die Eltern liegen auf der Couch. Sie haben sich lang hingestreckt
und stöhnen, dass sie über die Feiertage viel zu viel gegessen haben und
eigentlich ein bisschen Bewegung bräuchten. Doch natürlich rühren sie sich
nicht vom Fleck.
Kennt
man ja, denkt Carlotta und knabbert genüsslich an ihrem Spekulatius herum. So
sind Erwachsene eben.
Nachdem
sie drei oder vier Spekulatius vertilgt hat, steht sie auf und trollt sich in
ihr Zimmer. Hier schlüpft sie in das Kostüm, das sie vom Christkind bekommen
hat: ein wunderschönes Weihnachtsfeenkostüm. Es hat einen Tüllrock aus
hauchdünnen roten und grünen Schleierstreifen und ein dunkelgrünes Samtoberteil
mit roten Ärmeln, das über und über mit Silberstickereien verziert ist. Dazu
gehören die schimmernden, durchsichtigen Feenflügel, ein Stirnband aus
Funkelsteinchen und natürlich der Zauberstaub mit dem Glitzerstern an der
Spitze. – Schon ist sie nicht mehr Carlotta Ebert aus dem Wiesenweg, sondern
Spekulatia, die Weihnachtsfee aus dem Weihnachtswunderland. Und die hat große
Lust, Carlottas Eltern die dringend nötige Bewegung zu verschaffen!
Dazu
braucht sie allerdings einen magischen Spruch, das ist ja wohl klar! Etwas
Machtvolles wie Simsalabim, Hokuspokus, Abrakadabra oder Mutabor. Nur noch
viel, viel besser. Ein Zauberwort, das den Stern an der Spitze des Stabes zum
Zauberfunkensprühen bringt.
So was
wie … Hoddeldinot. Ja, genau! Spekulatia hält den Zauberstab in die Höhe, dabei
ruft sie laut „Hoddeldinot!“ und – ob man es glaubt oder nicht – der Stern an
der Spitze sprüht Funken wie eine Wunderkerze.
Spekulatia
kichert. Sie tippelt ins Wohnzimmer, wo sie Mama mit dem Sternenzauberstab an
der Stirn berührt. Dabei ruft sie: „Hoddeldinot – Tanz um den Weihnachtsbaum!“
Tatsächlich
springt Mama auf die Beine! Sie singt übermütig und laut „O Tannenbaum“ und
tanzt dabei vergnügt um den Christbaum herum. Das gleiche tut Papa, nachdem
Spekulatia Weihnachtsfee auch ihn verzaubert hat.
Sie
tanzen gerade zu dritt wie toll ihren Weihnachtsreigen, wobei sie lachen und
aus vollem Halse singen, da läutet es an der Tür.
Als
Spekulatia öffnet, stehen der Miesepeter Herr Wagner und seine Frau, die in der
Etage unter ihnen wohnen, auf der Matte. Sie beschweren sich über den Krach an
Weihnachten. Als ob Weihnachtslieder singen, lachen und tanzen Krach wäre!
Aber die
Wagners, denkt Spekulatia aufgebracht, die haben ja immerzu was zu meckern.
Weihnachten hin oder her. Die scheinen an gar nichts Spaß zu haben und finden
immer ein Haar in der Suppe. Das muss anders werden!
Schwups
nimmt sie ihren Zauberstaub. Nacheinander berührt sie Herrn Wagner und Frau
Wagner an der Stirn und sagt dabei: „Hoddeldinot – Tanz um den Weihnachtsbaum!“
Funken sprühen und schon tanzen auch Herr und Frau Wagner freudig trällernd um
den Tannenbaum im Wohnzimmer.
Es
läutet noch einige Male an der Tür an diesem Nachmittag. Irgendwann sind
sämtliche Möbel zur Seite geschoben, damit all die Leute, die Weihnachtslieder
singen, sich an den Händen halten und um den Tannenbaum tanzen, genug Platz
haben.
Da sind
außer der Weihnachtsfee Spekulatia-Carlotta noch Mama, Papa, Herr und Frau
Wagner, der dürre Herr Grimm aus dem Dachgeschoss und die dicke Gerlinde
Griese, die neben ihm wohnt. Die Geschwister Anneke, Laurits und Leif mit ihren
Eltern Olaf und Anna. Die Witwe Seidel und ihr uralter Bruder, der zwar nicht
mehr tanzen kann, aber wunderbar Geige spielt. Zwei Polizisten, die jemand
herbeigerufen hat, sind auch mit von der Partie. Außerdem tollt der Dackel
Waldemar, der Gerlinde Griese gehört, kläffend im Kreis. Sogar der Wind, der
durch das auf Kippe gestellte Fenster weht, wirbelt mit den ausgelassenen
Menschen herum.
Es ist
ein fröhlicher, lauter und bunter Abend! Der schönste zweite Weihnachtstag, den
sie je erlebt haben – darin sind sich alle einig, als sie sich endlich
voneinander verabschieden. „Schlaft gut!“, rufen sich die Leute mit rosigen
Gesichtern und leuchtenden Augen zu. „Bis zum nächsten Jahr beim Tanz um den
Weihnachtsbaum.“
„Genau“,
murmelt Spekulatia Weihnachtsfee und gähnt ein ganz und gar nicht feenhaftes
Drachengähnen.
Bald ist
es still im Haus in der Wiesenstraße. Die Polizisten sind in ihrem Polizeiauto
davongefahren. Der Dackel Waldemar schnarcht in seinem Körbchen. Die übrigen
Hausbewohner schlafen mit einem Lächeln auf den Lippen. In ihren Träumen fassen
sie einander an den Händen und tanzen – Hoddeldinot! - noch einmal singend um
den Weihnachtsbaum.
Tja, und
damit ist das Weihnachtsfest auf Erden vorbei! Wenigstens in diesem Jahr.
© Sabine Ludwigs
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