Im
Dezember hatte Tiklas, der kleine Drache, immer kalte Füße und auch sonst war
ihm um diese Zeit frostig zumute. Besonders vor Weihnachten. Da fühlte er sich
einsam. Abends saß er vor seiner Drachenhöhle und schaute hoch zum schwarzen
Himmel, an dem tausend Sterne glitzerten. Eine Gruppe von Sternen hatte sich zu
einem Drachen zusammengeschlossen. Das stand in dem dicken Buch, das Tiklas im
Sommer auf einer Wiese gefunden hatte. Das Sternbild sah aus wie einer dieser
Drachen, die die Kinder im Herbst in die Lüfte aufsteigen ließen. Tiklas hatte
ihnen von seiner Höhle aus oft zugeschaut.
Einmal war er aus seiner Höhle herausgekommen, weil er gerne
mitspielen wollte. Doch die Kinder waren schreiend vor ihm geflüchtet. Schnell
hatte sich Tiklas wieder in seiner Höhle verkrochen und noch heute hielt er
sich die Ohren zu, wenn er an das laute Schreien und Kreischen der weglaufenden
Kinder dachte. Solchen Lärm konnte Tiklas nicht ertragen. Er war nämlich einer
jener sehr leisen Drachen, die die sanften Töne liebten und bei jedem Krach
Ohrenschmerzen bekamen.
Deshalb wohnte er ganz allein in seiner Höhle. Noch nie
hatte er einen Drachen getroffen, der sein Freund oder seine Freundin hätte
sein können. Alle Drachen, die er kannte, waren so laut und aufdringlich, dass
er sich in den hintersten Winkel seiner Höhle verkroch, wenn sie mit lautem
Getöse durch die Luft flogen.
Tiklas liebte die Stille und schöne zarte Musik. Und so saß
er oft vor seiner Höhle und lauschte dem Zwitscherkonzert der Vögel, dem Zirpen
der Grillen, dem Summen der Bienen und all den lieblichen Melodien, die zu ihm
herüberwehten. Das klang so schön, dass Tiklas die Augen schloss und lächelte.
Wenn der Herbst zu Ende ging und die Kälte den Winter
ankündigte, verstummten die schönen Gesänge. Dann wurde Tiklas traurig, und vor
Weihnachten fühlte er sich jedes Jahr einsam und verlassen. Er sehnte sich nach
Spielgefährten, doch alle Drachen, die er kannte, waren laute Polterdrachen.
In diesem Jahr war Tiklas noch trauriger als sonst. So
traurig, dass er nicht einmal den CD-Player einschaltete, der ihm sonst die
dunkle kalte Zeit mit zauberhaften Melodien heller und freundlicher machte.
Dicke klebrige lila Drachentränen flossen aus seinen grünen Drachenaugen. Er
saß in seiner Höhle und hatte den Kopf auf die Hände gestützt und grübelte.
Ach, wenn ich doch einen Freund oder eine Freundin hätte, dachte er.
„Hey, du!“, schrie plötzlich eine laute Stimme. „Hey, du!
Warum weinst du denn?“ Einer dieser schrecklichen Spektakel-Drachen war zu
Tiklas in die Höhle gebraust. „Hey, du, bald ist Weihnachten! Da musst du dich
freuen und nicht Trübsal blasen. Wie heißt du eigentlich?“
„Tiklas“, sagte Tiklas und hielt sich die Ohren zu. Die
dicken Tränen flossen weiter aus seinen grünen Drachenaugen.
„Hey, du! Ich heiße Flipsus. Wollen wir ein Fass aufmachen?“
Der Drache stupste Tiklas kräftig in die Rippen.
Tiklas zuckte zusammen. „Was für ein Fass?“, fragte er und
hätte den ungebetenen Gast am liebsten fortgejagt. Ihm taten schon jetzt die
Ohren entsetzlich weh.
„Ein Fass aufmachen, das heißt, miteinander spielen, tanzen,
Krach machen und fröhlich sein.“
„Ach, weißt du, ich bin viel zu traurig, um ein Fass
aufzumachen“, sagte Tiklas.“Und außerdem hätte ich eigentlich gern meine Ruhe.
Ich mag keinen Krach. Mir tun die Ohren weh, wenn es so laut ist.“
„Ach, so einer bist du“, sagte Flipsus und setzte sich neben
Tiklas. „Meine Mutter hat mir schon viel von euch stillen Drachen erzählt. Dass
ihr gern schöne Musik hört und auch sonst sehr friedlich seid. Friedlich sind
wir aber auch und unheimlich nett, das kannst du mir glauben. Auch wenn es bei
uns manchmal ein wenig turbulent und laut zugeht.“
Da musste Tiklas aber doch lachen. „Willst du mal eine von
meinen Melodien hören, die ich besonders gern mag?“, fragte er.
Flipsus breitete die einladend die Arme aus und brüllte
fröhlich: „Na klar! Schmeiß den Player an!“
Zauberhaft zarte Melodien erklangen und Flipsus begann, sich
im Rhythmus der Musik hin und her zu wiegen. „Schön“, flüsterte er.
Am nächsten Tag war Flipsus wiedeer da. Diesmal kam er nicht
allein. Er hatte seine ganze Familie – Vater, Mutter, drei Schwestern und
sieben Brüder – mitgebracht. Dazu noch drei seiner besten Freundinnen und
Freunde. Das war ein ohrenbetäubender Lärm, als die wilde Horde Tiklas
begrüßte. Er hielt sich die Ohren zu und schaute Flipsus ängstlich an.
„Ruhe!“, schrie Flipsus. Und noch einmal: „Ruhe!“
Da war es plötzlich mucksmäuschenstill.
„Siehst du, wir können auch leise sein.“ Flipsus zwinkerte
Tiklas vergnügt zu und tippte auf den CD-Player.
Tiklas verstand sofort und schaltete die Zaubermusik ein.
Alle lauschten hingerissen und wiegten sich lautlos im Takt der Musik.
„Wunderbar! Einfach wunderbar!“, kreischte Flipsus jüngste
Schwester, als die Musik aufhörte. Tiklas zuckte zusammen. Aber nur ein ganz
klein wenig. Denn er fand die Drachengesellschaft in seiner Höhle sehr nett.
„Tiklas mag es nicht, wenn du so schreist“, sagte Flipsus zu
seiner kleinen Schwester. „Wenn wir mit ihm zusammen sind, müssen wir ein
bisschen stiller sein.“
Da hielten sich alle den Finger vor den Mund und sagten:
„Pssssssst!“ Dabei lächelten sie Tiklas freundlich an. Doch beim Abschied gab
es dann noch mal ein fröhliches lautes Halli und Hallo.
Nette Drachen, dachte Tiklas, als sie fort waren, wirklich
sehr nette Drachen. Und diesmal war er Weihnachten nicht allein. Er feierte
zusammen mit seinen neuen Freunden in ihrer Höhle und es störte ihn plötzlich
überhaupt nicht mehr, dass sie auch mal Krach machten und wilde Musik hörten.
Wenn es zu laut wurde, hielt er sich einfach die Ohren zu, und wenn sanfte
Musik erklang, hörten alle still zu und gaben keinen lauten Mucks von sich.
Tiklas hatte Freundinnen und Freunde gefunden und war sehr glücklich.
© Evelyn Sperber-Hummel