Irgendwas ist anders an diesem Morgen …
Tief
im Kunterwald, dort, wo die Bäume so dick und hoch sind, dass man bequem darin
wohnen kann, lebt der kleine Waschbär Kreddi.
Kreddi
ist ein ganz gewöhnlicher Waschbär, wie jeder andere auch, jedenfalls könnte
man das meinen, wenn er einem über den Weg läuft. Er hat ein rundes Gesicht,
eine spitze Nase, ein graues, plüschiges Fell, und um die Augen herum hat
Mutter Natur eine lustige Brille gemalt. Keiner seiner Freunde wäre auf den
Gedanken gekommen, dass dieser Waschbär etwas Besonderes sein könnte – wenn da
nicht diese Sache passiert wäre, an jenem eiskalten Montagmorgen, an dem unsere
Geschichte beginnt.
Der
Winter ist über Nacht im Kunterwald eingekehrt. Eine dicke, weiße Schneedecke
liegt über dem Waldboden und der Fluss, vor Kreddis alter Eiche, ist gefroren.
Kreddi
liegt in seinem Bett und versucht den Traum von dem scharlachroten Schloss
weiter zu träumen, aber er kann nicht mehr einschlafen, weil ein Sonnenstrahl
durch das Fenster seiner kleinen Baumhöhle scheint und ihn an der Nase kitzelt.
Er dreht sich nach links und nach rechts, doch seine Nasenspitze scheint den
Sonnenstrahl magisch anzuziehen. Kreddi gibt schließlich auf und krabbelt mit
einem Seufzer aus dem Bett.
Irgendetwas
ist anders an diesem Morgen. Kreddi weiß nicht, was es ist, aber gestern hat er
sich noch nicht so gefühlt; so leicht, als könnte er aus dem Stand einen
Hundert-Meter-Sprung hinlegen.
Ich
sollte vor dem Schlafengehen keine Schokolade mehr essen, denkt er bei sich,
während er den Teekessel aus dem Schrank kramt. Wenn es draußen bitterkalt ist,
setzt Kreddi immer etwas mehr Tee auf, denn er weiß, dass die Eule Uhulu - die
ganz oben in Kreddis alter Eiche wohnt – gerne vorbeikommt um sich aufzuwärmen.
Doch heute ist das schwierig, denn der Fluss ist gefroren und der Teekessel
leer. Kreddi überlegt, wo er Wasser für seinen Holundertee herbekommt, aber es
will ihm nichts einfallen. Seine Schnurrbarthaare kräuseln sich, so angestrengt
denkt er nach. Und während er so nachdenkt, schaut er aus dem Fenster und sieht
einen Eiszapfen, an dem sich ein Wassertropfen löst und mit einem – Plöpp -
auf dem Fenstersims landet. Plötzlich erinnert er sich an einen Satz, den die
Lehrerin, Frau Specht, einmal gesagt hat – Schnee ist nichts anderes wie
gefrorenes Wasser. Er müsste also nur etwas Schnee in die Teekanne füllen
und – schwups - würde daraus Wasser werden. Nicht für die Schule,
sondern für das Leben lernen wir, ist auch so ein Spruch, den Frau Specht
immer wieder sagt. Bis heute hat Kreddi ihn nie verstanden, aber jetzt weiß er,
was sie meint.
Kreddi
nimmt seinen knallroten Pulli von der Stuhllehne und streift ihn über den
kugelrunden Bauch. Mit der Teekanne in der Hand will er nach draußen, doch die
Eingangstüre geht nicht auf. Er rüttelt wie wild am Türknauf, stemmt sich mit
seinem ganzen Gewicht gegen die Türe, doch so sehr er sich auch anstrengt, sie
bewegt sich keinen Zentimeter - der Schnee draußen ist einfach zu hoch. Es ist
wie verhext, nichts will gelingen an diesem Morgen! Kreddi überlegt hin und
her, seine Schnurrbarthaare kräuseln sich wieder, bis ihm eine Idee kommt -
Uhulu. Der könnte ihm helfen.
Flink
öffnet er das Fenster und blinzelt hinaus in die kalte Morgenluft. Die Sonne
scheint auf den Schnee und blendet seine Waschbäraugen.
«Uhulu,
bist du da?», ruft er zur Eule hoch.
Doch
Uhulu antwortet nicht. Er sitzt in seiner kleinen Baumhöhle, den Kopf unter
einen Flügel gesteckt, und atmet ruhig und gleichmäßig.
«UHULU.
AUFWACHEN!»
Uhulu
schreckt auf. «Was? Wo? Wer? Ach, du bist es Kreddi. Guten Morgen», gähnt er
mit aufgeplusterten Federn.
«Uhulu,
ich komme nicht mehr raus. Kannst du mir helfen?» Kaum hat Kreddi es
ausgesprochen, flattert Uhulu auch schon über seinem Kopf und setzt zur Landung
auf dem Fenstersims an.
«Hmmm
…» Die Eule kratzt sich am Kopf. «Da kann ich auch nichts machen … das ist ein
Fall für den Biber. Ich fliege mal schnell rüber und hole ihn.»
Es
dauert keine zwei Minuten, da kommt Ralf der Biber durch den Schnee gestapft.
Er hat sich zwei Tennisschläger unter die Füße gebunden, um nicht im tiefen
Schnee zu versinken. Uhulu flattert über seinem Kopf. Mit seinen
Mülleimerdeckel großen Händen beginnt er sofort den Schnee vor Kreddis Türe
wegzuschaufeln.
«Danke,
Ralf. Hast du viel zu tun heute?», fragt Kreddi den nach Luft ringenden Biber.
«Sicher.
Muss noch zu Gunner, dem Fuchs, und zu Familie Maus – die sind auch
eingeschneit … Der ganze Kunterwald ist eingeschneit.»
«Aber
für einen heißen Holundertee hast du doch Zeit, oder?»
Ralf
hält kurz inne und schaut zu Kreddi. Dann schaufelt er weiter.
«Geht
leider nicht. Die anderen brauchen auch meine Hilfe.»
Kreddi
und Uhulu können gar nicht so schnell schauen, wie Ralf den Schnee beiseite
räumt. In Windeseile erhebt sich rechts und links neben der Türe ein mannshoher
Schneeberg.
«So,
das müsste reichen. Versuch mal, ob du jetzt raus kommst», sagt der Biber und
wischt sich den Schweiß von der Stirn.
Kreddi
stemmt sich gegen die Türe und schiebt den letzten Rest Schnee zur Seite.
«Freiheit,
du hast mich wieder», jubelt er und schüttelt Ralf die Hand. «Der Tee ist in
fünf Minuten fertig, willst du wirklich nicht bleiben?»
Ralf
schüttelt den Kopf. «Ich würde ja gerne … aber nein … ich muss weiter.» Mit
einem - jedes Jahr das Gleiche – auf den Lippen, verschwindet der Biber so
schnell wie er gekommen ist.
Kreddi
schaut ihm hinterher, wie er mit seinen Tennisschlägern über den gefrorenen
Fluss schliddert, und füllt die Teekanne bis zum Rand mit Schnee.
«Also
ich würde nicht Nein sagen zu einem Holundertee», schwärmt Uhulu und schaut
Kreddi mit seinen großen Eulenaugen an.
(...)
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