„Wer braucht schon Weihnachten?“, fragte Simone
sich am 1. Dezember beim morgendlichen Blick in den Spiegel. Als sie etwas
näher hinschaute, erblickte sie ein widerspenstiges winziges Haar am Kinn. Sie griff
nach der Pinzette und machte ihm den Garaus. Genau, Weihnachten brauchte man
ebenso wenig, wie überflüssige Haare als Wegbegleiter der Wechseljahre. Simone
nickte sich selbst zu. Nur konnte man Weihnachten nicht so schnell zur Seite
schieben, wie ein überflüssiges Kinnbärtchen. Dafür kam es allerdings auch
nicht so schnell wieder…
Für heute jedenfalls war Simone im Zweikampf
Sieger geblieben. Mal sehen, inwieweit sich das im Rahmen der leidigen
Festvorbereitungen umsetzen ließ. Sie sprang unter die Dusche und ließ sich das
heiße Wasser über den Körper laufen. Dabei reckte sie sich wohlig und genoss
es, dass ihr niemand sagte, sie würde kostbares Trinkwasser verschwenden. Oder,
dass sie längst krebsrot sein müsse, bei der gewählten Temperatur. Das Singledasein
hatte auch Vorteile. Simone warf sich in Schale. Heute war Samstag und sie
wollte bummeln gehen. Endlich mal ein paar neue Klamotten kaufen, im Cafe
sitzen und die Leute beobachten, an der Ecke einen Imbiss genießen und
genüsslich den kleinen Buchladen durchstöbern. Es war seit langem der erste
Samstag, an dem sie nicht arbeiten musste. Sie zog die hippen Overknees weit
den Oberschenkel hinauf. Sie saßen perfekt. Simone drehte sich vor dem
Garderobenspiegel und fand, dass einzig die Kinnhaare erkennen ließen, dass sie
den Zenit schon überschritten hatte.
Sie schloss die Wohnungstür und rief den Aufzug.
Als sie einstieg, stand die Kleine von Meier schon drin.
„Hallo du, Frau Schröder, weißt du, was heute in
meinem Adventskalender war?“, das Gör grinste. Simone mochte keine Kinder. Und
sie mochte es nicht, wenn jemand sie grundlos duzte. Also strafte sie das
vorlaute Kind mit Nichtachtung. Sie drehte ihm den Rücken zu und drückte auf
den Erdgeschoss-Knopf.
„Du, Frau Schröder, ich will aber eins höher und
komme nicht an den Knopf. Kannst du nicht mal für mich drücken?“
„Ich fahre ins Erdgeschoss. Da musst du eben
nochmal rauffahren. Und wenn du nicht bis oben kommst, musst du laufen.“ Simone
genoss ihre billige Rache für die unerwünschten Vertraulichkeiten des Mädchens.
Das zog auch sofort einen Schmollmund und holte zum Gegenschlag aus – Reden bis
der Arzt kommt.
„In meinem Kalender war ein Ball. Hast du auch
einen Kalender? Meine Oma hat noch einen zweiten für mich. Da darf ich heute
Nachmittag das Türchen öffnen. Und bald kommt der Nikolaus und bringt mir was
Süßes. Und bis das Christkind kommt, muss man auch nur noch dreiundzwanzigmal
schlafen. Wie findest du das, Frau Schröder?“
Uff, endlich erreichte der Aufzug das Erdgeschoss
und sie konnte dem Redefluss des kleinen Monsters entkommen. Hinter ihr glitt
die Tür gleich wieder zu und das Display zeigte an, in welches Stockwerk der
Aufzug fuhr. Simone grinste böse. Das Mädchen würde noch drei Etagen laufen
müssen…Simone schlenderte entspannt aus dem Parkhaus in Richtung Fußgängerzone.
Es war voll. Brechend voll, um genau zu sein. Unterwegs waren ihr schon
Unmengen von Autos aufgefallen, die Richtung Zentrum fuhren. Klar, es war der
erste verkaufsoffene Samstag im Advent. Doch sprach man in den Nachrichten
nicht dauernd davon, dass die deutsche Kaufkraft nachgelassen hatte? Davon
spürte Simone nichts. In der ersten Boutique, die sie zielstrebig ansteuerte,
standen mehrere Pärchen vor den Kleiderständern und suchten offensichtlich ein
passendes Outfit für die Weihnachtsfeiertage. Mindestens eine der Damen war
hier in einer völlig falschen Gewichtsklasse, konstatierte Simone. Da konnte
sie den Ständer noch so oft Karussell fahren lassen, sie würde nichts
Geeignetes finden, es sei denn, sie wollte als rotkarierte Presswurst
auftreten.
„Ich komme später nochmal rein“, zwinkerte Simone
der Verkäuferin zu, die bereits verzweifelt den Kopf schüttelte, als die Kundin
nach weiteren Größen fragte. Irgendwann mussten die ja aufgeben und zu Happy
Size wechseln. Also erst mal ins Schuhgeschäft. Vor dem Regal mit den
Topmodellen lungerte ein genervter Teenie herum.
„Nein Mama, entweder die High-Heels oder ich geh
barfuß“, fast hätte das Mädel mit dem Fuß aufgestampft, befürchtete Simone.
„Kommt gar nicht in Frage.“ Die Nerven der Mutter
lagen ebenfalls blank. „Schau doch mal, die hier sind mit Lammfell
gefüttert...“
„…und sind so uncool wie noch was!“, beendete die
Tochter den Satz. „Die kannste ja selber kaufen, diese langweiligen
Biolatschen. Und später kannst du sie kompostieren!“Mit dem Mädchen war nicht
zu reden. Simone mischte sich ein:
„Sicher sind die besser für deine Füße. Frag mal
beim Orthopäden, da kann man prima Einlagen reinpacken!“ Mutter und Tochter
drehten sich um und bildeten eine gemeinsame Phalanx gegen die unerwünschte
Einmischung.
„Ok, Louisa-Marie, welche wolltest du haben?“, die
Mutter griff fragend nach dem schönsten Paar High-Heels in Größe 38, genau das
Paar, auf das auch Simone scharf gewesen war. Louisa-Marie lächelte
hoheitsvoll.
„Ja, die sind es. Nur 129,- Tacken.“ Die beiden
wandten sich ab und eilten zur Kasse. Die ungeliebten Biolatschen ließen sie
vor dem Regal stehen. Simone zog ein langes Gesicht. Jetzt gab es die
High-Heels nur noch in dunkelblau. Sie hasste dunkelblaue Schuhe…Da ging sie
lieber in die Buchhandlung und suchte nach den neuesten Bestsellern der
Spiegel-Liste.
Der Dunst zu warm gekleideter Menschen schlug
Simone entgegen. Um die Tische gruppierten sich zahllose Kaufinteressenten. Die
Spielecke war voller tobender Kinder, denen vor lauter Wärme fast der Kopf
platzte. Sie kreischten, wenn sie die kleine Rutsche herunter polterten,
bewarfen sich mit Legosteinen, stellten einander im Vorübergehen Beinchen –
kurzum, die Zwerge waren genervt, weil ihre Erziehungsberechtigten so lange vor
den Regalen abhingen. Ein Kinderfuß traf schmerzhaft Simones Bein im Overknee.
Sie packte das Kerlchen am Kragen und blickte sich um. Die Frau dort vorne, ein
wenig abgehetzt und den Arm voller Bücher, schien zu dem Jungen zu passen.
„Ist das Ihrer? Können Sie den nicht mal
ruhigstellen? Da gibt es doch Medikamente…“ Zwar hatte Simone einen Treffer in
Menschenkenntnis gelandet, aber beliebt machte sie sich damit nicht.
„Lassen Sie meinen Jungen los“, zischte die Frau.
„Komm, Paul-Gustav, wir gehen.“ Und dort wo sie stand, ließ sie den mühsam
organisierten Bücherstapel auf einen Tisch fallen und verschwand.
„Eine Nervensäge weniger“, murmelte Simone,
während ein unbekannter Aushilfsverkäufer zu ihr trat und aggressiv fragte:
„Haben Sie das hier abgelegt? Wollen Sie die
Bücher nun kaufen, oder nicht? Hier kann doch nicht jeder machen, was er will.“
Ohne ihre Antwort abzuwarten begann er, die Bücher wieder einzusortieren. Dabei
schimpfte er leise vor sich hin, über Kunden, die sich für königliche Hoheiten
hielten. Jetzt reichte es Simone langsam. Sie würde in die Parfümerie gehen und
das besorgen, was sie dringend brauchte, dann würde sie nach Hause fahren. Die
Freude an einem Cafebesuch war ihr vergangen.
In der Kaufhausparfümerie war die Lage nicht besser.
Das hilflose Weihnachtsgeschenk vieler Männer blieb eben doch das Parfüm für
die Angetraute. Das ging schnell, man konnte es einwickeln lassen und es sah
teuer genug aus, um den Grad der Zuneigung zur Liebsten zu bezeugen. Gerade
säuselte ein ungepflegter Mittvierziger der Bedienung, einer attraktiven
Blondine, zu:
„Welchen Duft bevorzugen Sie denn?“ Aufdringlich
schnuppernd näherte sich seine Nase dem Hals der Frau. Die wich ein Stück
zurück und antwortete betont freundlich:
„Les Jeux sont faites“. Das Spiel ist gelaufen,
grinste Simone anerkennend, doch der Mann sprach offensichtlich kein
Französisch. Das würde bei der Herzallerliebsten nicht gut ankommen, es war ein
reiner Herrenduft, aber der Blödmann würde es vermutlich kaufen.
Simone drehte sich zu einem Regal mit den
Produkten um, nach denen sie suchte. Davor stand ein Mädchen, etwa zehn Jahre
alt. Sie blickte sich verstohlen um und erkannte, dass sie beobachtet wurde.
Möglichst unauffällig wechselte sie auf die andere Regalseite. Simone nahm, was
sie brauchte und beschloss, das Mädchen ihrerseits im Auge zu behalten. Sie
tat, als hätte sie alles und betrachtete die Auslagen. Aus dem Augenwinkel
erkannte sie, dass die Kleine soeben eine Flasche „Baiser Volé“ eingesteckt
hatte. Das war mehr als ein gestohlener Kuss. Etwa 150,- Euro musste man für
diese geringe Menge des Eau de Parfüm berappen. Simone trat von hinten an das
Mädchen heran.
„Stell es wieder weg“, zischte sie. „Dann sag ich
nichts.“ Die Kleine zuckte ängstlich zusammen. Tränen traten ihr in die Augen.
Vermutlich war sie abgewichst genug, die Tränendrüsen wie einen Wasserhahn auf-
und abdrehen zu können. Sie zog die Hand aus der Tasche, als die blonde
Bedienung wie aus dem Nichts erschien. Das Mädchen ließ die Flasche
zurückgleiten.
„Was hast du denn da gerade eingesteckt? Komm mal
mit und leer deine Taschen aus, mein Fräulein.“ Nun war es aus. Die Kleine
zitterte am ganzen Leib.
„Ich…“, mehr brachte sie nicht hinaus.
„Meine Tochter hat die Flasche nur für mich
festgehalten. Wir waren gerade auf dem Weg zur Kasse.“ Simone hatte sich
eingemischt, ohne zu überlegen. Da sie so selbstbewusst auftrat, erhob die
Verkäuferin keinen Widerspruch. Sie schob das Kind Richtung Kasse, zückte ihre
EC-Karte und bezahlte den stolzen Preis. „Packen Sie es bitte hübsch ein. Es
soll ein Weihnachtsgeschenk sein!“ Simone setzte einen blasierten
Gesichtsausdruck auf und nahm das eingewickelte Päckchen entgegen. „Komm
Liebling, wir sind hier fertig.“ Die Kleine realisierte kaum, wie ihr geschah
und war schon draußen auf der Straße.
„Danke“, stammelte sie.
„Dafür nicht“, erwiderte Simone. Aber beim
nächsten Mal solltest du dein Glück nicht herausfordern."
„Das sollte das Weihnachtsgeschenk für meine
Mutter sein. Die hat Depressionen und ich hab im Fernsehen gehört, ein schöner
Duft soll dagegen helfen“, versuchte das Mädchen zu erklären.
„Dann solltest du es ihr auch geben.“
„Aber das kann ich nicht annehmen.“ Ganz rot vor
Verlegenheit wand die Kleine sich.
„Ich mache sonst keine Weihnachtsgeschenke“,
erklärte Simone. „Du bist eine Ausnahme. Und nun verschwinde, ehe ich es mir
anders überlege. Und lass die Parfümerieprospekte zuhause verschwinden, damit
deine Mutter nicht sieht, was es gekostet hat.“ Mit diesen Worten drehte Simone
sich um und schritt durch die Fußgängerzone zum Parkhaus. Ein Blick über die
Schulter zeigte ihr, dass das Mädchen in die andere Richtung verschwand.
Schenken konnte tatsächlich Spaß machen. Dafür musste sie nicht bis Weihnachten
warten.
Eine Chance für
Weihnachten © Anja Ollmert 2012
Dieser Text ist dem Adventskalender-Buch „Worauf
wartet ihr noch?“ von Anja Ollmert
entnommen.
24 Geschichten und Gedichte zur Adventszeit, erhältlich
als
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E-Book bei Amazon und Bookrix
Mit
Erlaubnis der Autorin veröffentlicht.
Viele Infos
zur Person und weitere Texte und Leseproben gibt es unter www.anjaollmert.jimdo.com