Geschichten

Donnerstag, 3. Dezember 2015

Das schönste Geschenk von Christine Erdic



“Nepomuck, du bist doch wieder gar nicht bei der Sache heute”, tadelnd schaut Mutter den kleinen Koboldjungen an, der unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutscht. Seufzend legt Nepomuck die Schere beiseite, mit der er für sein Schwesterchen Nellie kleine Tiere aus buntem Wachspapier ausschneiden wollte.
“Ich überlege nur…”
“Was überlegst du denn?” Mutter lächelt vor sich hin. ”Hat es vielleicht etwas mit Weihnachten zu tun?” Nepomuck nickt.
“Ja! Ich überlege schon die ganze Zeit, was ich Oma Florchen schenken kann. Sie ist doch fast blind, da kann ich ihr nichts schnitzen oder basteln.” Nepomucks dunkle Augen schauen ratlos und Mutter fährt ihm mit der Hand tröstend durch sein wirres schwarzes Haar.
Oma Florchen ist ein Mensch und wohnt in einer bescheidenen Hütte am Waldrand nahe des Kobolddorfes. Die gutmütigen Kobolde versorgen sie mit dem Nötigsten und sehen nach ihr, denn sie scheint keine Verwandten zu haben. Der weichherzige Nepomuck besucht sie sogar fast täglich. Seitdem er einmal aus Versehen in der Werkstatt des Weihnachtsmanns in ein Päckchen gefallen und unter dem Weihnachtsbaum einer Menschenfamilie gelandet ist, weiß er, wie wichtig das Fest für die Menschen ist. Doch das ist eine lange Geschichte, die sogar in einem Buch festgehalten wurde, das “Nepomucks Abenteuer” heißt.
“Da habe ich eine Idee, Nepomuck. Wie wäre es, wenn wir der Oma einen Kuchen backen und du ihn dann hinbringst?” Kobolde sind viel kleiner als Menschen, deshalb passt Oma Florchen auch in keine der niedlichen eierfömigen Behausungen, die rings um die Lichtung gebaut sind. Im Sommer, wenn sich alles draußen abspielt, ist sie jedoch oft zu Gast hier im Kobolddorf.
Nepomuck springt jauchzend auf und reißt dabei fast die Teekanne vom Tisch. Mutter schüttelt den Kopf und holt schnell die Rührschüssel, den Quirl, Mehl, Milch, Eier, Nüsse, Butter, Honig und Kakaopulver herbei, ehe noch etwas passiert. Unter ihrer Aufsicht mischt der Koboldjunge einen leckeren Teig zusammen.
“Nepo, schleck doch nicht den ganzen Kuchen schon im Rohzustand auf”, schimpft sie. Jetzt erscheinen auch noch Naschkatze Nellie und zwei von Nepomucks Brüdern. Kurzerhand wird der Kuchen in den Backofen befördert. “Sonst bleibt am Ende nichts mehr für Oma Florchen übrig”, sagt Mutter lachend.
Zwei Stunden später stapft Nepomuck mit dem Schokokuchen durch den feinen Pulverschnee zu Oma Florchens Hütte. Es wird bereits dunkel, doch drinnen brennen Kerzen, die den kleinen Raum in ein gemütliches Licht tauchen.
“Trari trara, der Weihnachtsmann ist da!” Nepomuck brüllt aus vollem Hals und klopft kräftig an die Tür, bevor er die Klinke herunterdrückt. Mit Mühe hält er den Teller mit dem Kuchen im Gleichgewicht.
“Oh Nepomuck, das ist aber eine schöne Überraschung”, die alte Frau blinzelt erfreut. Doch dann passiert es! Nepomuck übersieht die Türschwelle, stolpert und fällt der Länge nach in die Stube, direkt vor den kleinen geschmückten Weihnachtsbaum. Ein braunes verschmiertes Gesichtchen schaut Oma Florchen verdattert entgegen, Nepomuck ist direkt in die Schokotorte gefallen.
“Der schöne Kuchen”, sagt er bedauernd und leckt sich über die Lippen.
Die Oma muss lachen. “Wie gut, dass ich grad Kekse gebacken habe. Und möchtest du vielleicht eine Tasse Kakao dazu? Aber erst säubern wir dich mal und räumen ein wenig auf.”
“Du hast gebacken? Ich dachte immer, du kannst fast nichts sehen!” Erstaunt schaut Nepomuck die alte Frau an.
“Wie kommst du denn da drauf, mein Junge?”
“Naja, du übersiehst uns doch so oft und… du hast eine Brille”, entfährt es Nepomuck.
“Aber die Brille habe ich doch, damit ich besser sehen kann. Und wenn man bedenkt, wie klein ihr Kobolde seid, da ist es fast schon normal, wenn ich mal über den einen oder anderen von euch stolpere.”
Nepomuck schaut sie zweifelnd an. “Aber nun ist der schöne Kuchen hin, den ich dir extra zu Weihnachten gebacken habe, der war doch dein Geschenk”, klagt er.
Oma Florchen schaut ihn liebevoll an. “Ja, das ist schon schade, ich hätte ihn sehr gern gekostet. Aber weisst du, was das schönste Weihnachtsgeschenk für mich ist?”
Nepomuck schüttelt ratlos den Kopf.
“Dass du an mich gedacht hast und heute hier bist, Nepomuck, das ist mein schönstes Geschenk. Und nun komm, bevor der Kakao kalt wird.”

©byChristine Erdic

Mehr von Christine Erdiç gibt es in ihren Büchern NEPOMUCKS ABENTEUER, GESCHİCHTEN AUS DEM REICH DER HEXEN, ELFEN UND KOBOLDE und ZAUBERHAFTE GERICHTE AUS DER KOBOLDKÜCHE soiwe auf ihrerWebseite http://christineerdic.jimdo.com/