Geschichten

Sonntag, 9. Dezember 2012

Schneesturm von Eva Markert



Ein paar Tage vor Heiligabend hört es auf zu schneien. Es wird wärmer, und der ganze schöne Schnee beginnt zu tauen. Am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien kommt morgens sogar die Sonne heraus. Das sieht Tom gar nicht gern. „Hoffentlich schmilzt nicht alles weg“, sagt er zu seiner Mutter. Weihnachten ohne Schnee ist für ihn nämlich nur ein halbes Weihnachten.
„Warte mal ab“, antwortet sie. „Für heute haben sie weiteren Schnee angesagt.“
Und tatsächlich! In der dritten Stunde verschwindet die Sonne und der Himmel wird bleigrau. Ständig wandert Toms Blick zum Fenster und kurz vor der zweiten großen Pause fallen vereinzelte Flocken vom Himmel.
Schnell werden es mehr. Es beginnt richtig zu schneien – und wie! So was hat Tom noch nie gesehen! Dazu ist ein heftiger Wind aufgekommen. Wie dichte, weiße Schleier weht der Schnee über den Schulhof.
Tom hat den Eindruck, dass die Lehrerin ein besorgtes Gesicht macht. Ihm selbst wird auch ein bisschen mulmig, wenn er hinausschaut. In den wirbelnden Flocken kann man kaum noch was erkennen. Tom stellt sich vor, er würde sich in dem Schneetreiben verirren und könnte den Weg nach Hause nicht mehr finden. Ein Schauer läuft ihm über den Rücken.
Zum Glück hat er heute nur fünf Stunden. Als er und sein Freund Oliver aus dem Schulgebäude treten, werden sie von dem starken Wind beinahe umgeweht. Nadelfeine Schneeflocken picken im Gesicht und in den Augen. Toms Wangen fangen an zu brennen und die Augen zu tränen. Er und Oliver ziehen ihre Mützen tief in die Stirn, schieben die Schals hoch bis über die Nasen, senken die Köpfe und beginnen sich vorwärtszukämpfen. Als sie den Ausgang des Schulhofes erreicht haben, dreht Tom sich noch einmal um. Das Schulgebäude ist in den Schneemassen, die vom Himmel fallen, beinahe unsichtbar geworden.
Oliver klopft ihm zum Abschied auf die Schulter. Er muss leider in die andere Richtung. Tom wäre es lieber, wenn sie zusammen weitergehen könnten.
Der Sturm bläst ihm voll ins Gesicht und der Schnee liegt dermaßen hoch, dass er nur ganz langsam vorankommt. Ab und zu tauchen dunkle Gestalten aus den Schneevorhängen auf und verschwinden wieder. Richtig unheimlich ist das!
Er merkt plötzlich, dass er fürchterlich friert, und es wird schnell schlimmer. Seine Füße fühlen sich taub an, die Kälte sticht sogar durch die Hose hindurch in die Oberschenkel. Seine Hände, die er tief in den Jackentaschen vergraben hat, schmerzen. Er hat seine Handschuhe vergessen, dabei hat Mama ihn heute Morgen noch gefragt, ob er sie eingesteckt hätte. „Ja, habe ich“, hat er geantwortet, aber leider nicht nachgesehen, ob das auch stimmte.
Auf der Straße ist es geisterhaft still. Kein Auto fährt. Die Wagen, die am Straßenrand geparkt sind, sehen aus wie unförmige Schneehaufen.
Er kommt an einer Bushaltestelle vorbei, an der Menschen warten und aufgeregt durcheinanderreden. Tom bleibt einen Augenblick stehen, um zu hören, was sie sagen. Anscheinend fährt kein Bus mehr und die Leute wissen nicht, wie sie nach Hause kommen sollen.
Tom fragt sich, ob er das schaffen wird, zu Fuß in diesem Schneesturm. Normalerweise dauert sein Schulweg zwanzig Minuten, aber die ist er jetzt bestimmt schon unterwegs, wenn nicht viel länger – und das rettende Haus ist noch weit!
Plötzlich überfällt ihn ein weiterer, sehr beunruhigender Gedanke: Sein Vater ist auf Geschäftsreise in München. Heute soll er zurückkommen. Aber sicher kann er bei dem Wetter nicht mit dem Auto fahren. Wenn er in München bliebe, weil es nicht anders geht, und Mama und er Weihnachten ohne ihn feiern müssten ... Diese Vorstellung ist so schrecklich, dass ihm Tränen in die Augen schießen.
Er biegt um die nächste Ecke, und ihm bleibt beinahe die Luft weg, als der Sturm ihn erneut mit voller Wucht von vorne packt. Ein paar Schritte weiter stößt er mit einem Mann zusammen und fällt rücklings in den Schnee, der sich hoch am Straßenrand auftürmt. Er verschwindet fast ganz darin. Der Mann sagt etwas, was Tom nicht verstehen kann, weil der Sturm unglaublich laut heult. Er rappelt sich hoch und klopft den Schnee ab. Nun ist zu allem Überfluss auch noch sein Hosenboden nass geworden. Papa an Weihnachten in München, er krank im Bett – das wäre das trostloseste Weihnachten, das er sich vorstellen kann!
Weil niemand es sieht, weint Tom ein bisschen. Seine Tränen laufen heiß über die eiskalten Wangen. Außerdem weint er, weil er furchtbar friert, müde ist und der Weg nach Hause noch endlos weit erscheint. Und weil er schreckliche Angst hat. Kurz überlegt er, ob schon mal Menschen im Schnee verloren gegangen und erfroren sind. Schnell verscheucht er diese Gedanken wieder.
Auf einmal bleibt er wie angewurzelt stehen. Das kann nicht sein, nein, das bildet er sich bestimmt ein! Aber im ersten Moment ... im ersten Moment, da hat er tatsächlich gedacht, dass die Gestalt, die aus dem Schnee aufgetaucht ist, dass dieser Mann ...
„Tom!“, hört er plötzlich. „Gut, dass ich dich gefunden habe!“
„Papa!“, schreit er und stürzt sich in die Arme seines Vaters. Fest schließen sie sich um ihn, und für einen Moment wird Tom ganz warm. „Wieso bist du nicht in München?“, brüllt er gegen den Sturm an.
„Ich habe den Wetterbericht gehört und bin deshalb schon in der Nacht losgefahren. Jetzt aber los, nach Hause!“
Und nun tut er etwas, was er schon lange nicht mehr gemacht hat: Er nimmt Tom auf seine Schultern. Dann stapft er los und bringt ihn schnell und sicher nach Hause.
„Da seid ihr ja“, sagt seine Mutter erleichtert, als sie zur Tür hereinkommen. „Schnell, zieht euch warme Sachen an. Ich koche inzwischen heiße Schokolade.“
Als sie kurz darauf bei Kakao und Kerzenlicht beisammensitzen und Tom hinausschaut in den Schneesturm, findet er, dass es bei ihnen noch nie so herrlich weihnachtlich und gemütlich war.


© Eva Markert

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