Ein
paar Tage vor Heiligabend hört es auf zu schneien. Es wird wärmer, und der ganze
schöne Schnee beginnt zu tauen. Am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien
kommt morgens sogar die Sonne heraus. Das sieht Tom gar nicht gern. „Hoffentlich
schmilzt nicht alles weg“, sagt er zu seiner Mutter. Weihnachten ohne Schnee ist
für ihn nämlich nur ein halbes Weihnachten.
„Warte
mal ab“, antwortet sie. „Für heute haben sie weiteren Schnee
angesagt.“
Und
tatsächlich! In der dritten Stunde verschwindet die Sonne und der Himmel wird
bleigrau. Ständig wandert Toms Blick zum Fenster und kurz vor der zweiten großen
Pause fallen vereinzelte Flocken vom Himmel.
Schnell
werden es mehr. Es beginnt richtig zu schneien – und wie! So was hat Tom noch
nie gesehen! Dazu ist ein heftiger Wind aufgekommen. Wie dichte, weiße Schleier
weht der Schnee über den Schulhof.
Tom
hat den Eindruck, dass die Lehrerin ein besorgtes Gesicht macht. Ihm selbst wird
auch ein bisschen mulmig, wenn er hinausschaut. In den wirbelnden Flocken kann
man kaum noch was erkennen. Tom stellt sich vor, er würde sich in dem
Schneetreiben verirren und könnte den Weg nach Hause nicht mehr finden. Ein
Schauer läuft ihm über den Rücken.
Zum
Glück hat er heute nur fünf Stunden. Als er und sein Freund Oliver aus dem
Schulgebäude treten, werden sie von dem starken Wind beinahe umgeweht.
Nadelfeine Schneeflocken picken im Gesicht und in den Augen. Toms Wangen fangen
an zu brennen und die Augen zu tränen. Er und Oliver ziehen ihre Mützen tief in
die Stirn, schieben die Schals hoch bis über die Nasen, senken die Köpfe und
beginnen sich vorwärtszukämpfen. Als sie den Ausgang des Schulhofes erreicht
haben, dreht Tom sich noch einmal um. Das Schulgebäude ist in den Schneemassen,
die vom Himmel fallen, beinahe unsichtbar geworden.
Oliver
klopft ihm zum Abschied auf die Schulter. Er muss leider in die andere Richtung.
Tom wäre es lieber, wenn sie zusammen weitergehen könnten.
Der
Sturm bläst ihm voll ins Gesicht und der Schnee liegt dermaßen hoch, dass er nur
ganz langsam vorankommt. Ab und zu tauchen dunkle Gestalten aus den
Schneevorhängen auf und verschwinden wieder. Richtig unheimlich ist
das!
Er
merkt plötzlich, dass er fürchterlich friert, und es wird schnell schlimmer.
Seine Füße fühlen sich taub an, die Kälte sticht sogar durch die Hose hindurch
in die Oberschenkel. Seine Hände, die er tief in den Jackentaschen vergraben
hat, schmerzen. Er hat seine Handschuhe vergessen, dabei hat Mama ihn heute
Morgen noch gefragt, ob er sie eingesteckt hätte. „Ja, habe ich“, hat er
geantwortet, aber leider nicht nachgesehen, ob das auch stimmte.
Auf
der Straße ist es geisterhaft still. Kein Auto fährt. Die Wagen, die am
Straßenrand geparkt sind, sehen aus wie unförmige Schneehaufen.
Er
kommt an einer Bushaltestelle vorbei, an der Menschen warten und aufgeregt
durcheinanderreden. Tom bleibt einen Augenblick stehen, um zu hören, was sie
sagen. Anscheinend fährt kein Bus mehr und die Leute wissen nicht, wie sie nach
Hause kommen sollen.
Tom
fragt sich, ob er das schaffen wird, zu Fuß in diesem Schneesturm. Normalerweise
dauert sein Schulweg zwanzig Minuten, aber die ist er jetzt bestimmt schon
unterwegs, wenn nicht viel länger – und das rettende Haus ist noch
weit!
Plötzlich
überfällt ihn ein weiterer, sehr beunruhigender Gedanke: Sein Vater ist auf
Geschäftsreise in München. Heute soll er zurückkommen. Aber sicher kann er bei
dem Wetter nicht mit dem Auto fahren. Wenn er in München bliebe, weil es nicht
anders geht, und Mama und er Weihnachten ohne ihn feiern müssten ... Diese
Vorstellung ist so schrecklich, dass ihm Tränen in die Augen schießen.
Er
biegt um die nächste Ecke, und ihm bleibt beinahe die Luft weg, als der Sturm
ihn erneut mit voller Wucht von vorne packt. Ein paar Schritte weiter stößt er
mit einem Mann zusammen und fällt rücklings in den Schnee, der sich hoch am
Straßenrand auftürmt. Er verschwindet fast ganz darin. Der Mann sagt etwas, was
Tom nicht verstehen kann, weil der Sturm unglaublich laut heult. Er rappelt sich
hoch und klopft den Schnee ab. Nun ist zu allem Überfluss auch noch sein
Hosenboden nass geworden. Papa an Weihnachten in München, er krank im Bett – das
wäre das trostloseste Weihnachten, das er sich vorstellen kann!
Weil
niemand es sieht, weint Tom ein bisschen. Seine Tränen laufen heiß über die
eiskalten Wangen. Außerdem weint er, weil er furchtbar friert, müde ist und der
Weg nach Hause noch endlos weit erscheint. Und weil er schreckliche Angst hat.
Kurz überlegt er, ob schon mal Menschen im Schnee verloren gegangen und erfroren
sind. Schnell verscheucht er diese Gedanken wieder.
Auf
einmal bleibt er wie angewurzelt stehen. Das kann nicht sein, nein, das bildet
er sich bestimmt ein! Aber im ersten Moment ... im ersten Moment, da hat er
tatsächlich gedacht, dass die Gestalt, die aus dem Schnee aufgetaucht ist, dass
dieser Mann ...
„Tom!“,
hört er plötzlich. „Gut, dass ich dich gefunden habe!“
„Papa!“,
schreit er und stürzt sich in die Arme seines Vaters. Fest schließen sie sich um
ihn, und für einen Moment wird Tom ganz warm. „Wieso bist du nicht in München?“,
brüllt er gegen den Sturm an.
„Ich
habe den Wetterbericht gehört und bin deshalb schon in der Nacht losgefahren.
Jetzt aber los, nach Hause!“
Und
nun tut er etwas, was er schon lange nicht mehr gemacht hat: Er nimmt Tom auf
seine Schultern. Dann stapft er los und bringt ihn schnell und sicher nach
Hause.
„Da
seid ihr ja“, sagt seine Mutter erleichtert, als sie zur Tür hereinkommen.
„Schnell, zieht euch warme Sachen an. Ich koche inzwischen heiße
Schokolade.“
Als
sie kurz darauf bei Kakao und Kerzenlicht beisammensitzen und Tom hinausschaut
in den Schneesturm, findet er, dass es bei ihnen noch nie so herrlich
weihnachtlich und gemütlich war.
© Eva Markert
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