Geschichten

Freitag, 19. Dezember 2014

Deine Wünsche, meine Wünsche Weihnachtskurzgeschichte von Christine Spindler

Illustration Krisi Sz.-Pöhls


„Ich habe zehn Umzugskartons besorgt“, sagte Patrick. „Das dürfte genau hinhauen.“ Er lehnte fünf platte Kartons an die Wand im Flur, küsste Britta zur Begrüßung auf die Lippen und ging die nächsten fünf holen.
Britta begann, den ersten Karton aufzubauen. Sie bezweifelte, dass sie alle zehn brauchen würden, da sie aus einem winzigen WG-Zimmer auszog? Andererseits war Patrick in Alltagsdingen durchweg besser organisiert als sie. Er wusste, was man für ein langes Wochenende einkaufen musste, wie viel Farbe man zum Streichen eines Zimmers brauchte und wie man eine Reise plante, bei der selbst unliebsame Überraschungen einen nicht ins Straucheln brachten. Er war ein wandelnder Plan B.
Britta hingegen neigte zum Chaos und zu spontanen Entscheidungen. Oft war sie heillos mit dem Kuddelmuddel überfordert, das sie damit manchmal verursachte. Nur wenn es um Weihnachten ging, wurde sie zum Planungsgenie. Jedes Jahr fing sie schon im Januar an Geschenkideen zu notieren, wenn jemand in ihrer Familie oder ihrem Freundeskreis in irgendeinem Zusammenhang leuchtende Augen bekam oder etwas sagte in der Art von: „Das ist ja praktisch.“
Ihr Entschluss, bei Patrick einzuziehen, war eine ihrer typischen Blitzaktionen, denn sie kannte ihn erst seit drei Monaten. Doch da der Vorschlag von ihm gekommen war, fühlte Britta sich auf der sicheren Seite. Er wusste schließlich, was er tat. Sie hatte diesen tollen Mann bei einem Ed-Sheeran-Konzert kennengelernt. Die Anziehungskraft zwischen ihnen war von Anfang an magisch gewesen.
Patrick brachte die restlichen Kartons. „Unten kommen schwere Sachen rein, oben drauf dann Leichteres. So lässt sich alles gut tragen.“
„Aye, aye Captain“, sagte Britta und schmiegte sich an seine breite Brust. Er war so stark, besonnen und solide. Zum ersten Mal konnte sie sich vorstellen, mit einem Mann eine Familie zu gründen, Kinder großzuziehen, ein Haus zu bauen und mit ihm alt zu werden.
Zwei Stunden lang packten sie einvernehmlich und Britta staunte, was aus ihren Schränken und Schubladen alles zum Vorschein kam. Patricks Augenmaß hatte sich als richtig erwiesen. In die letzte Kiste wanderte der Kleinkram, der noch herumlag, sowie die ganzen Rollen mit Geschenkpapier, die sie gebunkert hatte.
Patrick nahm eine Rolle, drehte sie in den Händen und hob fragend die Augenbrauen. „Da sind ja Schneemänner drauf.“ Er griff nach der nächsten. „Und hier Engel. Sieht aus wie Weihnachtspapier. Wir haben doch erst August.“
„Ich kaufe das Geschenkpapier immer im Vorrat kurz nach Weihnachten, weil es dann billiger ist.“
Er zählte die Rollen. „Das dürfte reichen bis zu deiner Verrentung.“
„Oh nein, das reicht gerade Mal für die nächste Bescherung. Ich habe eine große Familie und einen riesigen Freundeskreis.“
Patrick stellte die Rollen sorgfältig in den Karton. „Aber die beschenkst du doch nicht etwa alle.“
„Wieso?“
„Weil …“ Er zögerte. „Also, in meiner Familie schenken wir uns nichts.“
Britta war entsetzt. „Wie – keine Weihnachtsgeschenke? Für niemanden? Das ist ja furchtbar!“
Patrick schüttelte den Kopf. „Nein, es ist wunderbar. Wir verbringen ein völlig entspanntes Weihnachten. Vorher kein Einkaufsstress, danach keine Rennerei, um Sachen umzutauschen. Und kein Auspacken von Geschenken, bei denen man so tun muss, als würde man sich über etwas freuen, das man nicht gebrauchen kann. Wir sparen uns den ganzen Konsumterror.“
Britta setzte sich aufs Bett und verschränkte die Arme. „Das hat bei uns überhaupt nichts mit Konsum zu tun“, sagte sie aufgebracht. „Wir machen uns ehrlich Gedanken, womit wir uns gegenseitig eine Freude machen können. Keine Verlegenheitskäufe! Es wird auch nicht verglichen, ob jemand mehr oder weniger für den anderen ausgegeben hat. Es geht nur um die Wertschätzung und Liebe, die man dadurch ausdrückt.“ Sie hatte das Gefühl, sich gegen sämtliche Vorurteile verteidigen zu müssen, die es zum Thema Weihnachten gab. „Es ist eine wundervolle Tradition.“
„Hm.“ Patrick klappte die Kiste zu und beschriftete sie. Dann setzte er sich neben Britta. „Mag sein, aber wir haben nur mal eine andere Familientradition. Wir sitzen bei einem festlichen Essen zusammen und reden. Nur die kleineren Kinder bekommen etwas geschenkt.“
„Singt ihr wenigstens Weihnachtslieder?“, erkundigte sich Britta.
„Eigentlich nicht.“
„Und ihr habt wohl auch keinen Baum“, vermutete sie.
„Nur ein paar Kerzen auf dem Fenstersims.“
„Wie erbärmlich.“ Hastig korrigierte sie sich: „Tut mir leid, das klingt so abwertend. Ich meine, wie … hm … spartanisch?“
„Puristisch“, schlug er vor. „Aber keine Sorge, wenn wir an Heiligabend deine Eltern besuchen, singe ich natürlich alle Lieder mit. Nur beim Schenken möchte ich gern außen vor gelassen werden.“
Britta seufzte. Sie hatte schon so viele Ideen, womit sie ihm eine Freude machen könnte. Und sie hatte selbst bereits unauffällig den einen oder anderen Wunsch ausgesprochen, in der Annahme, dass er dafür genauso empfänglich war wie sie. „Du willst also wirklich nichts haben?“
„Nein, wenn ich etwas brauche, kaufe ich es mir selber. Dann muss ich auch nicht bis Weihnachten warten.“
Das war so logisch und kalkuliert wie alles, was er tat. Und völlig unromantisch. Mit diesen Gegensätzen würden sie wohl leben müssen. „Okay, abgemacht.“ Sie stupste ihn an die Nasenspitze. „Mein bestes Geschenk im letzten Jahr warst übrigens du.“
„Hm.“ Er runzelte in gespieltem Ernst die Stirn. „Also, also, wenn ich mit einer Schleife um den Hals bei dir unterm Baum gesessen hätte, das wüsste ich.“
Sie fuhr durch die weichen Haare in seinem Nacken. „Meine Mutter hat mir die Konzertkarten geschenkt. Sonst wären wir uns nie begegnet.“
* * *
Heiligabend fiel dieses Jahr auf einen Montag. Am Freitag flogen sie zu Brittas Eltern nach Hamburg, um dort drei Tage zu verbringen, bevor sie am Dienstag wieder zurück nach Berlin flogen, wo sie am zweiten Feiertag Patricks Eltern besuchen würden.
Patrick war ein wenig mulmig zumute, denn er kannte Brittas Eltern noch nicht. Und nun würde er nicht nur die beiden, sondern auch noch alle möglichen Tanten und Cousinen und Großeltern gleichzeitig kennenlernen. So viel Familie auf einem Haufen – und alle würden reichlich Geschenke anschleppen, während er mit leeren Händen kam.
Doch die Familie erwies sich als unkompliziert und bis auf einen griesgrämigen Onkel als sehr umgänglich. Die beiden freundlichen Familienhunde Flocke und Samurai adoptierten Patrick sofort und folgten ihm auf Schritt und Tritt.
Das Haus der Eltern war üppig geschmückt – etwas überladen, aber doch geschmackvoll. Patrick staunte, wie schnell er sich daran gewöhnte, dass es überall blinkte und glitzerte, dass es nach Lebkuchen und Glühwein duftete und dass im Hintergrund stets Weihnachtsmusik lief.
Als der Abend der Bescherung kam, saß er mit einem Glas Punsch in einem gemütlichen Lehnsessel, die kleine Flocke auf dem Schoß, Samurai zu seinen Füßen, und schaute zu, wie die anderen vergnügt um den Baum herumliefen und ihre Geschenke zusammensuchten. Andächtig wurden die liebevoll verpackten Gaben geöffnet. Freudenjuchzer erfüllten den Raum. Es gab Umarmungen und Küsse – und Patrick musste zugeben, dass Britta recht gehabt hatte. Das war keine Familie, die dem Konsumterror huldigte. Niemand heuchelte Freude, alle waren ehrlich überrascht und beglückt. Sogar der griesgrämige Onkel blühte auf.
Der jüngste Spross der Familie, Brittas Neffe Tom, kam zu Patrick gerannt und wollte, dass er ihm beim Aufbauen der Holzeisenbahn half, was er gerne machte.
Er war gerade dabei, die Bahn unter Tschu-tschu-Geräuschen im Kreis fahren zu lassen, als Britta sich zu ihnen setzte. Sie hatte flaches Päckchen in der Hand, etwa so groß wie ein Taschenbuch. An die Schneemänner auf dem Geschenkpapier erinnerte Patrick sich noch vom Umzug im Sommer. „Britta, du hast doch nicht etwa …?“
„Keine Sorge“, sagte sie. „Es ist genau das, was du dir gewünscht hast.“
Zögernd zog er die Schleife auf und faltete das Papier auseinander. Eine schlichte Pappschachtel kam zum Vorschein. Er hob den Deckel ab. Die Schachtel war leer.
„Du wolltest nichts“, sagte sie. „Also bekommst du nichts. Nichts außer meiner Liebe und der Gewissheit, dass ich deine Wünsche immer respektieren werde.“
Patrick reichte die Schachtel den Hunden zum Spielen und nahm Britta in den Arm. „Danke.“
„Es gefällt dir also?“
„Nun ja, wenn ich es recht bedenke, möchte ich es umtauschen.“ Er griff in seine Jeanstasche. Als er die Hand wieder rauszog, hielt er zwischen Daumen und Zeigefinger den Platinring mit den fünf winzigen Diamanten, den Britta neulich so lange im Schaufester angestarrt hatte. „Und zwar gegen ein Ja.“
Sie warf sich auf ihn und küsste ihn wie wild. „Ja, ja, ja“, kreischte sie.
„Tschuuuu, alle einsteigen!“, rief der kleine Tom, der keine Ahnung hatte, dass er Zeuge eines Heiratsantrags geworden war.


©Christine Spindler


Im Leben von Christine Spindler dreht sich fast alles um Bücher. Sie schreibt Krimis, Liebesromane, Kinder- und Jugendbücher, mal unter ihrem eigenen Namen, mal unter einem ihrer Pseudonyme: Julianne Sands, Tina Zang und Kris B. Außerdem arbeitet sie als Literaturübersetzerin und hat seit Mai 2014 einen eigenen Verlag, den sie nach ihrer Glückszahl benannt hat: "Twenty-six Books", kurz „26|books“.






Krisi Sz.-Pöhls
ist 44 Jahre alt und lebt recht zurückgezogen in Oppenheim am Rhein.
Malen gehört seit ihrer Kindheit zu ihren Hobbys. Mittels Fortbildungen ist die Autodidaktin Künstlerin geworden.
Mehr von ihr auf ihrer Homepage www.salidaswelt.com