Geschichten

Donnerstag, 22. Dezember 2011

Der Weihnachtskaktus von Evelyn Sperber-Hummel



Er sammelte Kakteen. Rundliche und schlanke, solche, die sich kugelig aufblähten, und solche, die sich bezarr verzweigten. Manche blühten. Andere verzichteten auf jeglichen Schmuck und begnügten sich damit, ihre prallen Körper und Glieder in die Luft zu strecken. Mit den Jahren war eine hübsche Sammlung zusammengekommen. Uwe pflegte seine Schützlinge liebevoll. Und er freute sich jedesmal, wenn er ein weiteres Exemplar für seine stachelige Gesellschaft geschenkt bekam.
„Der Junge macht mir Sorgen“, meinte der Vater eines Tages. Für einen 14jährigen Buben erschien ihm sein Sohn viel zu still. Wenn er wenigstens Briefmarken gesammelt hätte. Uwes Vater hatte in seiner Kindheit Fußball gespielt und auch sonst richtige Jungensachen getrieben. Es enttäuschte ihn, daß ausgerechnet sein Sohn so gänzlich aus der Reihe schlug.
„Laß ihn doch“, beschwichtigte die Mutter den Vater, wenn er sich gar zu sehr über den "Blumenboy“, wie er Uwe zu nennen pflegte, aufregte. „Laß ihn doch. Die Kakteen machen ihm Freude. Andere Kinder sitzen stundenlang vorm Fernsehapparat. Unser Uwe beschäftigt sich eben mit seinen Pflanzen. Das ist doch nicht schlimm.“
Meist gelang es ihr, den Vater zu besänftigen. „Ja, ja“, murmelte er dann, „du hast ja recht. Aber es wäre doch schön, wenn sich unser Uwe wie ein richtiger Junge benähme.“ Dabei seufzte er.
Die Jahre vergingen. Uwe bereitete den Eltern sonst keinerlei Probleme. In der Schule lief alles nach Plan. Er machte sein Abitur als Bester von der Klasse.
„Ich bin stolz auf dich, mein Sohn“, sagte der Vater. Er sah seinen Uwe schon als Rechtsanwalt oder als Arzt oder gar als Professor. „Ich bin sehr stolz auf dich.“
„Ich will Gärtner werden“, sagte Uwe.
Der Vater starrte ihn an. „Gärtner? Mit d e m Numerus clausus?“
Auch die Mutter wunderte sich und konnte nur schwer ihre Enttäuschung verbergen.
„Ich will Gärtner werden. Das wißt ihr doch schon seit Jahren.“
Ja, Uwe hatte irgendwann einmal davon gesprochen, daß es sein Traum wäre, in einer Gärtnerei zu arbeiten. Aber damals war er noch ein Kind. Kinder haben viele Träume. Uwes Vater erinnerte sich daran, daß er als Junge Astronaut werden wollte. Oder wenigstens Pilot oder Rennfahrer. Jetzt verdiente er als Steuerberater sein Geld. Kinderträume! „Du wirst auf jeden Fall studieren“, erklärte der Vater, „von mir aus Gartenbauarchitektur oder Landschaftspflege, wenn du unbedingt in diese Richtung gehen willst.“
„Ich werde eine Lehre als Gärtner machen.“ Uwes Stimme klang fest. „Vielleicht spezialisiere ich mich später einmal, aber im Augenblick möchte ich nichts weiter, als ganz normal von der Pieke auf den Beruf des Gärtners erlernen.“ Dabei blieb er auch in den folgenden Tagen und Wochen. Da halfen alle Überredungskünste seiner Eltern nichts. Uwe begann mit der Lehre.
„Schuld sind nur diese blöden Stacheldinger.“ Der Vater spürte plötzlich eine ohnmächtige Wut auf alle Kakteen. Man mußte sie ausrotten, mit Stumpf und Stil mußte man sie vernichten. Und das tat er dann auch. Als Uwe am Abend nach Hause kam, fand er seine Schützlinge zerquetscht und zerhackt im Mülleimer. Der Vater hatte ganze Arbeit geleistet.
Da packte Uwe seinen Koffer und ging.
Die Mutter weinte.
Der Vater sagte: „Der kommt schon wieder.“
Aber Uwe kam nicht wieder.
Wochen vergingen.
„Du mußt ihn zurückholen“, sagte die Mutter. Sie litt unter der Trennung.
„Er wird schon von alleine kommen.“ Doch Uwes Vater glaubte inzwischen selbst nicht mehr daran. Es gelang ihm immer weniger, seine Gewissensbisse zu verdrängen.
Weihnachten kam.
„Wir können doch nicht ohne unseren Uwe Weihnachten feiern.“ Die Mutter weinte.
Der Vater nickte. „Nein, ohne ihn können wir nicht feiern.“
Am 24. Dezember machte er sich auf den Weg zu seinem Sohn. Er klingelte an Uwes Tür.
„Du?“
„Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Der Vater stellte einen Weihnachtskaktus auf Uwes Tisch.
Die beiden Männer lächelten sich an.
Es wurde ein schönes Weihnachtsfest.

© Evelyn Sperber-Hummel