Mittwoch, 16. Dezember 2015

Stille Nacht, Holy Night von Eva Markert

Foto von Eva Joachimsen

Das erste Weihnachtsfest in ihrer neuen Heimat! Mit Peer hatte Emily abgesprochen, dass sie ein deutsch-britisches Weihnachtsfest feiern wollten. Auf diese Weise brauchten sie beide nicht auf liebgewordene Traditionen zu verzichten.
Mit dem Mistelzweig, den Emily in der Adventszeit über der Wohnzimmertür befestigte, fing es an. Dieser Brauch fand besonderen Anklang bei ihrem frischgebackenen Ehemann. Oft verharrte er grinsend unter dem Türrahmen, um sie unter dem Mistelzweig küssen zu können.
Die Weihnachtskarten, die Emily in Ermanglung eines Kamins auf dem Sideboard aufstellte, amüsierten ihn. „Ich wusste gar nicht, dass du dermaßen viele Leute kennst“, lachte er.
Den Heiligen Abend verbrachten sie auf deutsche Weise mit Kerzenlicht und Geschenken unter dem Weihnachtsbaum. Trotzdem hängte Emily vor dem Zubettgehen einen Strumpf auf und fand zu ihrer Freude am nächsten Morgen darin einen hübschen Ring mit einem kleinen Rubinherz.
Christmas Day – der erste Weihnachtstag –, das war der Höhepunkt von Emilys Fest! Peers gesamte Familie war eingeladen: seine Eltern, der Bruder mit seiner Frau und die Großmutter.
Emily hatte sich große Mühe mit der Dekoration gegeben. Das Esszimmer war reichlich mit Luftschlangen und Papierketten geschmückt. Auf dem Tisch lag an jedem Platz ein buntes Knallbonbon.
Kurz bevor ihre Gäste kamen, schaute Emily sich zufrieden um. Ja, so feierte man Weihnachten in ihrer Heimat, und sie freute sich darauf, ihrer neuen Familie dieses Fest nahezubringen. „Merry Christmas“, dachte sie.
Die Eltern erschienen als Erste. Verwundert blickten sie Emily an. „Feiern wir heute Karneval?“, fragte Peers Vater. Es war als Scherz gemeint, aber Emily spürte das unangenehme Körnchen Wahrheit, das in dieser Bemerkung lag.
„Bei uns zu Hause ist Weihnachten ein sehr fröhliches Fest“, erklärte sie.
„Bei uns auch“, erwiderte ihre Schwiegermutter, „nur – anders fröhlich.“
Peers Bruder und seine Frau sagten nichts, doch Emily entgingen die Blicke nicht, die sie sich zuwarfen.
Seine Großmutter nahm kein Blatt vor den Mund. „Ich finde diese Luftschlangen und Papiergirlanden unpassend und ganz und gar unweihnachtlich“, äußerte sie mit tiefer Missbilligung in der Stimme.
Emily schluckte.
Die Großmutter nahm ein Knallbonbon und drehte es in ihren Händen. „Was soll das?“, fragte sie.
„Das ist ein Christmas Cracker“, erläuterte Emily. Sie merkte es bereits. Ihr Fest würde misslingen. Aber es half nichts. Da musste sie nun durch. „Zieh!“, forderte sie Peers Großmutter auf. Gleichzeitig zog sie am anderen Ende des Bonbons. Es knallte. Alle zuckten zusammen. Ein Blättchen Papier, eine Papierkrone und ein kleiner Glückskäfer landeten auf der Tischdecke.
Emily las den Witz vor, der auf dem Zettelchen stand. Zugegeben, es war kein besonders guter. Die Anwesenden lächelten gequält.
Schnell griff Emily nach der Papierkrone und setzte sie der alten Dame auf. Sie sah grotesk damit aus, das konnte Emily nicht leugnen. Andererseits machte natürlich niemand mit einer Papierkrone auf dem Kopf einen besonders würdevollen Eindruck. „Ihr müsst alle eure Knallbonbons öffnen“, rief sie, „die Witze vorlesen und die Kronen aufsetzen.“
Höflich folgten die Gäste dieser Aufforderung. Sie taten es widerwillig, das war nicht zu übersehen. Am meisten schmerzte es Emily, dass auch Peer sich offensichtlich sehr unwohl in seiner Haut fühlte.
Dennoch versuchte er ihr zu Hilfe zu kommen. „Warum sollten wir Weihnachten nicht mal ein wenig anders feiern als sonst?“, warf er ein. „Damit Emily ihre Heimat heute nicht allzu sehr vermisst.“
„Da stimme ich dir zu“, antwortete sein Bruder. „Zumal es hier ausgesprochen appetitlich riecht.“
Bratenduft durchzog das Haus. Als Hauptgericht gab es Truthahn gefüllt mit Backpflaumen und Äpfeln, Röstkartoffeln und mehrere Gemüse. Den ganzen Weihnachtsmorgen hatte Emily in der Küche gestanden.
Peer und sie holten den Braten und die Schüsseln mit Gemüse und Kartoffeln aus der Küche. „Mein britisches Weihnachtsfest kommt nicht gut bei euch an“, sagte Emily traurig.
„Warte mal ab“, tröstete Peer sie. „Bei dem herrlichen Dinner, das du zubereitet hast, werden sie ihre gute Laune schnell wiedergewinnen.“
Als sie ins Esszimmer zurückkamen, hatten alle die Pappkronen wieder abgenommen und neben ihre Teller gelegt. Emily tat, als bemerkte sie es nicht.
Das ausgezeichnete Essen fand großen Anklang. Und dennoch, obwohl jeder sich redliche Mühe gab, blieb die Stimmung verkrampft.
Emily war erleichtert, als sie endlich beim Christmas Pudding angelangt waren. Diesen traditionellen Weihnachtspudding aus Rosinen, Trockenfrüchten, Mandeln und Nüssen hatte sie schon einige Wochen vorher zubereitet. Darin war eine Münze versteckt. Wer die fand, durfte sich etwas wünschen.
Ihre Schwiegermutter hatte die Münze auf ihrem Teller.
„Und was wünschst du dir?“, wollte Peer wissen.
„Dass wir nächstes Jahr wieder normal Weihnachten feiern“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. Sie warf Emily einen entschuldigenden Blick zu. „Nichts für ungut“, fügte sie hinzu. „Es war durchaus interessant zu erleben, wie man in Großbritannien das Weihnachtsfest begeht. Allerdings ziehe ich ehrlich gesagt deutsche Weihnachten vor.“
Unter dem Tisch nahm Peer Emilys Hand und drückte sie.
Emily lächelte. „Ist schon okay“, erwiderte sie, doch das Herz tat ihr weh. Eigentlich wurde ihr erst in diesem Augenblick so richtig bewusst, dass sie ihre Heimat verlassen hatte.
Sie hatte es für Peer getan und nie bereut, all die Jahre nicht. Vor Kurzem hatten sie Silberhochzeit gefeiert. Das bedeutete fünfundzwanzig Weihnachtsfeste ohne Luftschlangen und Knallbonbons, dafür mit Engeln, Glockenklang und feierlicher Musik. Allein der Truthahn am ersten Weihnachtstag und ein paar Weihnachtskarten auf dem Sideboard erinnerten noch an das Fest ihrer Kindheit und Jugend.
Ihre Tochter war mit dem deutschen Weihnachtsfest aufgewachsen. Die Geschenke brachte das Christkind. Father Christmas, der in der Nacht auf den ersten Weihnachtstag durch den Schornstein kommt, hatte für sie nie eine Rolle gespielt.
Emily selbst hatte sich an deutsche Weihnachten gewöhnt. Nicht nur das! Dieses typisch deutsche Fest gefiel ihr. Deutschland war mit den Jahren zu ihrer Heimat geworden – ihrer zweiten Heimat.
Und heute würden Peer und sie Christmas Day zum ersten Mal nicht zu Hause verbringen. Anna, ihre Tochter, hatte mit ihrem Freund eine eigene Wohnung bezogen und die Eltern eingeladen.
Als sie bei Anna eintraten, stieg ihnen ein vertrauter Duft in die Nase. Truthahn. Diese Familientradition wollte ihre Tochter beibehalten.
Anna führte sie ins Wohnzimmer. „Was ist denn das?“, rief Emily überrascht aus. Unter der Decke hingen Luftschlangen und bunte Papierketten. Auf dem festlich gedeckten Tisch lag neben jedem Teller ein Knallbonbon. An Peers und ihrem Stuhl war ein Strumpf befestigt, aus dem Geschenke hervorschauten.
„Ich dachte, heute feiern wir mal britische Weihnachten“, erklärte Anna. „Du hast mir so oft davon erzählt. Das wollte ich immer schon ausprobieren.“
„Wie schön! Ich freue mich“, stieß Emily hervor.
Während des Essens dachte sie zurück an ihr erstes Weihnachten in Deutschland. Wie anders war es verlaufen als dieses hier!
„Dies ist das lustigste Weihnachtsfest, das ich je erlebt habe“, meinte Annas Freund, als sie nach dem Essen bei einem Gläschen Wein beisammensaßen. Alle hatten ihre Papierkronen noch auf dem Kopf. „Es ist nicht so kitschig“, fügte er hinzu. „Ich könnte mich glatt daran gewöhnen.“
„Also abgemacht“, sagte Anna lächelnd. „Nächstes Jahr, selber Ort, selbe Zeit, selbe Veranstaltung.“
„Darauf trinken wir“, rief Peer, und alle erhoben ihr Glas.
 © Eva Markert
Eva Markert lebt in Ratingen bei Düsseldorf. Von Beruf ist sie Studienrätin mit den Fächern Englisch und Französisch. Außerdem besitzt sie ein Zertifikat für Deutsch als Fremdsprache und ist staatlich geprüfte Übersetzerin. In ihrer Freizeit arbeitete sie viele Jahre als Lektorin und Korrektorin in einem kleinen Verlag mit.
Zahlreiche Kurzgeschichten und Kindergeschichten von Eva Markert wurden in verschiedenen Hör- und Printmedien veröffentlicht. Ihre Kinder- und Jugendbücher sowie Romane und Kurzgeschichtensammlungen für Erwachsene sind bei Amazon und anderen Händlern erhältlich.

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