Montag, 14. Dezember 2015

Das Schneekind - Eine Kurzgeschichte von Sonja B.-Hoffmann


Foto von Eva Joachimsen

Vor einigen Jahren ereignete sich in einer Kleinstadt im Süden von Deutschland etwas, wovon die Bewohner noch heute kopfschüttelnd erzählen. Es war kurz vor Weihnachten. Seit Tagen schneite es und die satten Wolken am Himmel versprachen weiteren Niederschlag. Die Menschen in dieser Stadt beobachteten mit Sorge den Schneefall. Die Massen auf den Straßen wuchsen, die Fahrzeuge fanden kaum ein Durchkommen, so dass sich viele zu Fuß auf den Weg machten, um ihre letzten Weihnachtseinkäufe zu erledigen.
In dieser Zeit wurde von einer Familie der Stadt ein Kind aufgenommen, was unter den Bewohnern für Gesprächsstoff sorgte. Es hieß, das die eigenen Eltern das Kind ausgesetzt hätten. Genaueres wusste jedoch niemand.
Das Kind, es war ein Mädchen, hieß Amelie. Es hatte schneeweiße Haare und eine ebenso blass schimmernde Haut. Amelie war ein stilles Kind. Es saß meistens am Fenster, zählte Schneeflocken oder sah den Nachbarskindern beim Herumtollen zu. Wenn Amelie aufgefordert wurde, mit den anderen draußen zu spielen, schüttelte sie nur den Kopf, nahm ihre Stoffkatze und kuschelte sich auf das Sofa.
Das Stofftier hatte Amelie mit in die Familie gebracht. Es hatte ein weißes Fell und dieselben wasserblauen Augen wie das Mädchen. Vielleicht war diese Ähnlichkeit der Grund, weshalb Amelie das Tier immer und überall mitnahm. Die Katze hatte Amelie auch an ihrem ersten Schultag in der neuen Stadt begleitet. Es kostete der Lehrerin einige Mühe, Amelie zu überzeugen, dass ihr Spielzeug im Schulranzen besser aufgehoben war.
In diesen Tagen waren die Fenster der Wohnungen mit Zweigen, Strohsternen und Lichterketten weihnachtlich geschmückt. Frau Sonnenschein, so hieß Amelies Pflegemutter, hatte eine Tanne besorgt, die kaum größer als Amelie war. Sie stand bereits auf dem Balkon und wartete darauf, bunt geschmückt zu werden.
Am Morgen des letzten Adventswochenendes nahm Frau Sonnenschein Amelie an die Hand. Sie liefen in den Ort, eingehüllt in wattierten Mänteln, mit Wollmützen, Schals und festen Schuhen an den Füßen. Frau Sonnenschein wollte Weihnachtsgeschenke einkaufen.
»Du hast kein Geschenk auf den Zettel für das Christkind gemalt«, sagte sie zu ihrer Pflegetochter..
Amelie schüttelte den Kopf. Sie senkte den Blick und presste ihre Katze an die Wange.
»Hast du keinen Wunsch, Amelie?«
Amelie antwortete nicht.
»Nun, vielleicht willst du dem Nikolaus deinen Wunsch erzählen. Lass uns ins Kaufhaus gehen, er verteilt dort kleine Geschenke.«
Zielstrebig lief sie mit Amelie in Richtung Spielzeugabteilung. Der Nikolaus saß auf einem Thron, umringt von Kindern. Jedes Jahr engagierte das Kaufhaus für diese Rolle einen Studenten. Dieser Nikolaus kam Frau Sonnenschein wesentlich älter vor. Zahllose Falten durchzogen sein Gesicht. Dennoch behauptete man später im Kaufhaus, dass es der gleiche Student wie letztes Jahr gewesen wäre.
Als Amelie die Spielzeugabteilung betrat, hob der Nikolaus den Kopf und winkte sie zu sich. Einige Kinder zerrten an den Armen ihrer Mütter und deuteten auf das Mädchen. Die Frauen steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Ein Junge mit kräftig roten Backen lachte laut und kreischte: »Weißmelli! Weißmelli«
Amelie blieb stehen.
»Sie tun dir nichts«, sagte Frau Sonnenschein und schob sie Richtung Thron.
Was nun passierte, wurde unterschiedlich von den Umherstehenden berichtet. Einige behaupteten, Frau Sonnenschein hätte dem Nikolaus etwas zugesteckt, während dieser Amelie auf seinen Schoß hob. Andere sagten, der Mann hätte die Stoffkatze in seinen Sack gesteckt und ausgetauscht. Unterstützt von einem Jungen erzählte Frau Sonnenschein später jedoch Folgendes:
»Mein Kind hatte Angst. Zu offen waren die musternden Blicke und dieses Misstrauen ihrem Aussehen gegenüber. Dabei war sie nur ein Kind der Stadt wie alle anderen, mit den gleichen Bedürfnissen und Wünschen. Dann rief jemand diesen Schimpfnamen. Amelie zitterte am ganzen Körper. Ich überlegte kurz, ob ich mit ihr die Abteilung verlassen sollte. Der gütige Blick des Nikolauses hielt mich zurück. Ich verstand, dass ich ihr die Begegnung mit ihrer Umwelt nicht ersparen durfte. Amelie musste begreifen, dass sie trotz ihrer Andersartigkeit ein Mensch war, wie jeder andere, mit den gleichen Rechten. Sie musste lernen, dass das Verhalten der anderen ebenfalls Angst war, Angst vor dem Ungewöhnlichen. Deshalb drängte ich sie trotz ihres Widerstandes zum Thron. Sie riss an meiner Hand, als der Nikolaus sie hochhob. Er raunte ihr etwas zu, und ich konnte sehen, wie sie entspannte. Ich hörte, wie er sagte, dass sie ein Schneekind sei und deshalb etwas Besonderes. Wenn ein Schneekind in eine Stadt käme, würde seine Mutter ihre ganze Liebe über den Platz ausschütten. Sie solle sich umsehen. Dieses Jahr versinke der Ort in Schneemassen, so viel Liebe empfände ihre Mutter für sie.
In diesem Moment lächelte Amelie -, zum ersten Mal.
Ich weiß nicht, wie er es machte, ich war zu sehr auf seine Worte konzentriert, aber er streichelte Amelies Stoffkatze und plötzlich bewegte sich das Tier. Es beugte den Rücken, schnurrte und rieb die Nase an Amelies Arm. Die Kinder stürmten herbei, um die Katze zu berühren. Es dauerte, bis ich Amelie von den vielen streichelnden Händen befreien konnte. Die Kinder zupften an den Ärmeln ihrer Mütter und verlangten auch nach einer Katze.
Amelie legte ihre Hand schützend über das Tier und trug es vorsichtig nach Hause. Ich überlegte, wie ich meinem Mann den weiteren Familienzuwachs erklären sollte, aber als Amelie in der Wohnung ihre Arme öffnete, hielt sie wieder die Stoffkatze in der Hand. Das schien sie nicht weiter zu stören. Wenn mich die Leute nicht darauf angesprochen hätten, ich hätte an eine Sinnestäuschung geglaubt.
Nach diesem Geschehen war Amelie verändert. Sie war offener, lachte wieder, spielte mit den Nachbarskindern, und wenn sie jemand auf ihr ungewöhnliches Aussehen ansprach, erklärte sie, dass sie ein Schneekind sei, und der Schnee die Liebe ihrer Mutter.«


Sonja Hoffmann lebt mit ihrer Familie am Rand von München. Wenn sie nicht dem Broterwerb nachgeht, taucht sie ein in die Natur und schöpft daraus die Ideen für ihre Geschichten.